Königsberger Wanderung
Unser Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, finden bei unseren Leserinnen und Lesern großen Zuspruch. Wir wollen ihn nun auf seiner 37. Wanderung begleiten.
SPRUNG IN DIE MODERNE
Teil 37 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung von KE 11-12/2020, 1-12/2021, 1-12/2022 und 1-10/2023
Der nördliche Stadtrand war früher erst am Anfang seiner Bebauung. Umso mehr gibt er heute einen Eindruck von der Entwicklung Kaliningrads. Als ein Gebäude der „Übergangsepoche“ treffen wir an der Kreuzung Aschmannallee/ Schwalbenweg (Parkovaja Alleja/uliza Gerzena) auf einen Krankenhauskomplex, der in der Königsberger Chronik als „Reservelazarett III Maraunenhof“ verzeichnet ist. Es ist ein zweckmäßiger Bau mit vier Geschossen inmitten einer schönen Parkanlage. Die Nutzung ist geblieben, wenngleich es heute von der Baltischen Flotte geführt wird.
Wir gehen weiter nach Westen auf einer Straße, die um 1940 gerade erst zu bauen begonnen wurde und heute als uliza Ostrowskogo und in ihrer Verlängerung als uliza Gajdara verzeichnet ist. Es wird ein Kreisverkehr erreicht, der ein imposantes Panorama freigibt. Hier ist in den 2000er Jahren eine komplette Trabantenstadt entstanden, die alles für die Nahversorgung bereithält. Doch nicht nur das.
Am Kreisel gehen wir in den nördlichen Abzweig (uliza Gorkogo – das nördliche Ende der Samitter Allee) und nach etwa 300 m links in die uliza Panina. Wir sind nun kurz vor Ballieth (ein Gut, das 1928 nach Königsberg eingemeindet wurde). Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Fort No. 4 „Gneisenau“ und der Ringchaussee.
Es wird in der Ferne ein futuristisch anmutendes Gebäude sichtbar, das zu einer Besichtigung lockt. Wir widerstehen der Nutzung eines Automobils, denn die frische Luft hier draußen und die interessante Kulisse sind die Strapazen eines Marsches wert. Nach weiteren ca. 200 m biegen wir rechts ab in die uliza Soglasija, und schon sind wir am Ziel: Es wirkt wie ein Raumschiff, das auf dem freien Feld gelandet ist: der Jantarny-Sportpalast, der ein einzigartiges Gebäude für die Region Kaliningrad ist. Es gibt zehn Sportanlagen für Amateur- und Profitraining, dazu zwei hochmoderne Arenen und fünf Trainingsräume unterschiedlicher Kapazität.
Wir gehen auf der uliza Soglasija zurück nach Süden und treffen an ihrem Ende – westlich des vorgenannten Kreisverkehrs – nach zwei Ecken auf die nahegelegene uliza Narwskaja. Lassen Sie sich nicht von dem hohen Plattenbau aus der sowjetischen Zeit täuschen. Wir sind wieder in Gefilden, an denen Königsberg seinerzeit an seinem nördlichen Rand endete. Ein dem Plattenbau benachbartes Haus zeigt die deutsche Architektur an, denn wir sind am nördlichen Ende der Hans-Sagan-Straße auf der Tragheimer Palve. Und dieser Name steht für eine Heldenfigur ohnegleichen, wie auch für ihre Entzauberung.
Der Kneiphöfische Schustergeselle Hans von Sagan, so geht die Mär, soll 1370 in einer kriegerischen Auseinandersetzung des Deutschen Ordens mit dem Heer der Litauer das sinkende Ordensbanner hochgehalten und damit zu den Siegen beigetragen haben – und dies auch noch trotz einer Verletzung an seinem Fuß. Als Dank habe er sich von Kaiser Karl IV. die Gnade auserbeten, der Königsberger Bevölkerung alljährlich zum Himmelfahrtstag ein Gastmahl mit „Schmeckbier“ auf Kosten des Ordens auszurichten. Welch ein Stoff für Legenden! Die Geschichte ist volkstümlich; sie hat einen Helden, und es steht am Ende das beglückte Volk.
Manche Chronisten sehen hier sogar den Keim für die spätere, reale Tradition der „Langen Wurst“, die von der Fleischerzunft im 16. Jahrhundert als Leistungsschau durch die Stadt zum Königsberger Schloss getragen wurde. Herzog, Oberräte und der Hofstaat bekamen eine Ehrengabe von der Wurst, alsdann die Ratsherren und die Pfarrer von Altstadt, Kneiphof und Löbenicht. Sie alle erhielten ein „Schmeckprobchen“, wie man heute noch auf gut Ostpreußisch sagt. Der Rest wurde bei einem fröhlichen Volksfest verspeist. (Der Brauch wurde in den letzten Jahren im modernen Kaliningrad interpretiert, was, finde ich, eine schöne Reverenz ist).
So ganz schlüssig endet die Geschichte des Hans von Sagan leider nicht. Man sagt zwar, dass der blaue Arm im Wappen des Kneiphofes auf sein blaues Hemd zurückzuführen sei. Auch wird berichtet, dass der Kaiser der Schuhmachergilde das Recht gab, den Kaiserlichen Doppeladler in Wappen und Siegel zu verwenden. Doch abseits dessen wird aus der romantischen Heldengeschichte ein eher peinlicher Bruderkampf: Nach Mühlpfordt führte im Jahre 1455 ein Herzog Balthasar von Sagan ein Ordensheer in einem Streit gegen den Kneiphof an. Also eine schnöde Lokalrivalität aus der Zeit der drei Königsberger Teilstädte und ihrer Rangeleien. DAS konnte unmöglich in die Sagenwelt eingehen. Und so wurde aus dem Herzog ein bürgerlicher Schuster in einer glorreichen Schlacht bei Rudau. Hans von Sagan wurde in einer Holzskulptur der Prussia-Sammlung dargestellt und im frühen 20. Jahrhundert in einem expressionistischen Denkmal des Kölner Künstlers Andreas Threyne (1888-1965) am Kneiphöfischen Rathaus.
Es blieb eine Geschichte, an der wir uns erbauen und erfreuen können, während wir gleichzeitig –wir sind in der Stadt Kants – den Mut haben, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Und der sagt: Heldengeschichten sollten mit einer gesunden Skepsis aufgenommen werden. Sie sind – nach Fontane – Ausnahmezustand und meistens Produkt einer Zwangslage (siehe auch KE 02/2021). Und Zwangslagen seien keinem gegönnt.
Jörn Pekrul