Die Kraft der alten Worte
Die Überschrift „Die Kraft der alten Worte“ stammt aus einer Illustrierten, und der Text unter dieser Überschrift handelt von Sprache und Wortschatz und deren Wandel. Wertvolle alte Erstausgaben, die 100 oder 200 Jahre alt sein könnten, erwecken Begeisterung.
Ein Mensch, der Bücher liebt, ist – einfach ausgedrückt – ein Buchliebhaber. Das Fremdwort „Bibliophiler“ meint dasselbe, ist aber eine Nuance stärker. Bei einem „Bibliophilen“ schwingt Leidenschaft mit, da geht es nicht mehr nur um den Inhalt der Bücher, sondern um die Beschaffenheit der verschiedenen Ausgaben, um Besonderheiten bei der Ausstattung, um Geschichte und Ziele der Verlage. Es kann auch geschehen, dass ein Mensch zu einem „Bücherfanatiker“ wird; dann besteht die Welt aus Buchhandlungen, Antiquariaten und Trödelmärkten, jedes Buch-Event wird aufgesucht, Gesamtausgaben werden angeschafft, und der ständige Satz lautet: „Das müssen wir haben!“
Für einen solchen Zeitgenossen in Westdeutschland erwies sich die Öffnung des Königsberger Gebietes als eine Beseligung, die alle seine Kräfte weckte. Er selbst fuhr nicht nach Königsberg, aber die deutschen Besucher der Oblast wurden von ihm mit Büchern aller Art versorgt.
Die russischen Freunde hatten nämlich sofort ihr Interesse an der deutschen Literatur bekundet, die Mitglieder des „Germanistischen Lehrkörpers“, wie es damals an der Universität hieß, die Deutschlehrer und die Dolmetscherinnen und alle, die „mit den Touristen arbeiteten“. Es gab bewegende Begegnungen. Da trug ein Taxifahrer ein Gedicht von Heinrich Heine vor, ein Deutschlehrer interessierte sich besonders für Karl May, und eine Studentin fragte nach Heinrich Böll.
Der „Bibliophile“, unser Jochen, lief zur Höchstform auf. Für die Universität – sie wurde erst 2005 in „Kant-Universität“ umbenannt – beschaffte er im Laufe der Jahre wahre Schätze der Literatur Ostpreußens. Es gelang ihm, eine Gesamtausgabe der Dramen von Zacharias Werner (1768-1823) aufzutreiben, aus dem Jahre 1820. Der Nachbar und Kollege dieser vielschichtigen Künstlerpersönlichkeit war der berühmte Romantiker E.T.A. Hoffmann (1776-1822). Ein Exemplar seiner Erzählung „Die Elixiere des Teufels“ fand ebenfalls den Weg nach Kaliningrad. Es war eine Publikation des Verlags Philipp Reclam jun. in Leipzig, leider ohne Jahr, aber der deutsche Bücherfreund konnte rekonstruieren. Es müsste 1890-1900 gedruckt worden sein. Überhaupt schien der Bücherfreund Jochen Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie und Literatur studiert zu haben. Von dem Dramatiker Hermann Sudermann (1857-1928) übergab er nicht nur das Theaterstück „Sodoms Ende“ in einer Ausgabe von 1906 von der Cotta‘schen Buchhandlung Nachfolger, Stuttgart und Berlin, sondern auch den Roman „Der Katzensteg“ (1920) und vieles mehr. Agnes Miegels (1879-1964) „Geschichten aus Alt-Preußen“ vom Verlag Eugen Diederichs in Jena 1926 musste der Bücherfreund wohl aus einem Nachlass ergattert haben, denn eine handschriftliche Widmung belegt den Band als Weihnachtsgeschenk 1927. Die Kleinodien fanden in der Universität in einem speziellen Raum Platz. Der deutsche Bücherfreund, den man in Kaliningrad nicht persönlich kannte, erhielt Dankschreiben und Ehrenurkunden für seine Verdienste für den deutsch-russischen Kulturaustausch.
Doch dann kam 2020 Corona. Reisen in die Kaliningrader Oblast waren nicht mehr möglich. Aber das geistige Leben kann sich über Grenzen hinwegsetzen. Die russischen Freunde arbeiteten weiter an den gewohnten Themen, u.a. über das Theater in Königsberg vor 1945 oder über Kants Nachfolger. Nun war die Elektronik gefragt. Es wurden ganze Bücher oder große Auszüge gewünscht. Bei solchen Quantitäten waren die privaten Laptops überfordert. Aber es gibt ja Chico aus Kroatien mit seinem tüchtigen Team. „Kommen Sie nur! Wir kriegen das hin!“, sagt er zu jedem Kunden, der seinen Copy-Shop betritt. Dort werden Plakate und Flyer gedruckt, alle Arten von Kopien hergestellt, prachtvolle Fotobücher als Geschenk gestaltet, auch Drucker repariert und unmögliche elektronische Sendungen auf den Weg gebracht. Und tatsächlich: die Riesentexte kamen in Kaliningrad an, Danksagungen erfolgten ebenfalls elektronisch – gesegnet sei der technische Fortschritt!
Die alten, gedruckten Worte behalten offenbar ihre Kraft. „Geistige Begegnung über die Jahrhunderte“, sagte eine Lehrerin von mir einmal. Und über alle Grenzen hinweg…
Bärbel Beutner