Das Uhrenfachgeschäft Bistrick in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Foto: Wikipedia

Königsberger Wanderung

Unser deutscher Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, finden bei unseren Leserinnen und Lesern großen Zuspruch.  Wir wollen ihn nun auf seiner 34. Wanderung begleiten.

VOM GESTERN INS HEUTE

Teil 34 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung von KE  11-12/2020, 1-12/2021, 1-12/2022  und 1-7/2023

Welchen Streich einem die Vergangenheit spielen kann, zeigt uns das Mädchen Ella Aschmoneit aus der letzten Folge. Aufgewachsen in einer Villa am Oberteich und verewigt in einem Roman (KE 07/2023), steht sie im Juni 1932 auf der Schmiedebrücke im Zentrum Königsbergs und sieht einem Vierer-Rennruderboot nach. Es gleitet pfeilschnell und mit einem faszinierend gleichmäßigen Bewegungsablauf der Ruderer den Pregel hinab und wird, nach der Biegung bei den Speichern, weiter in Richtung Holländerbaum fahren (eine Baumstammsperre in früherer Zeit, später ein kleiner Bahnhof). Und einmal in dieser stimmungsvollen Beschreibung gefangen, verschob sich eine Begrifflichkeit und wurde zur Oberbaumbrücke, obwohl es natürlich die Oberteichbrücke war, auf der wir Maraunenhof erreichten.

Doch daraus lässt sich in dieser außergewöhnlichen Stadt, angefüllt mit Geschichte und Gegenwart wie kaum anderswo, ein nützlicher Imperativ ableiten: die Vergangenheit taugt nicht zur Verklärung. Sie gibt dem einzelnen Menschen oft Erinnerungen, die eine persönliche Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte sein können und eine Stärkung für den weiteren Weg. Für die Gegenwart einer Gesellschaft bietet sie wertvolle Vergleiche und bewährte Erfahrungen an. Doch beides will geordnet und säuberlich getrennt sein, um sich entfalten zu können.

Ein Zeugnis über diese Kraft im Gestern, die heute noch inspiriert, begegnet uns auf der parallel zur Hoverbeckstraße (uliza Turgenewa) verlaufenden Herzog-Albrecht-Allee (uliza Telmana). Auf einem roten Hydranten ist zu lesen: „Bopp & Reuther Mannheim“. Der Firmengründer Carl Reuther (1846-1908) wuchs in sehr einfachen Verhältnissen auf. In Reutlingen lernte er Mechanik. Carl Reuther galt als temperamentvoll, impulsiv, aber auch mit Pioniergeist. Er entwickelte sich zum Konstrukteur von Armaturen für Wasser, Gas und Dampf, die im damaligen Deutschen Reich sehr nachgefragt waren. Mit Carl Bopp (1830-1893) gründete er 1872 die genannte Firma und wurde Alleininhaber, als Bopp 1881 in den Ruhestand ging. Von Mannheim aus wuchs der Betrieb und stellte z.B. bereits 1900 etwa 60 Prozent  der Weltproduktion an Wasserschiebern her. Der wirtschaftliche Erfolg wurde durch ein breites und starkes soziales Netz für seine Arbeiter und Angestellten ergänzt.

Carl Reuther hat nie vergessen, was Armut ist und wo er herkam. Seine Frau Marie, geb. Altenkirch, (1846-1919) galt in der Firma als „Mutter aller Mitarbeiter“. Mit einem guten psychologischen Blick und Taktgefühl glich sie manche Spannungen zwischen ihrem Mann und den Arbeitern aus. Ende 1908 standen 3.500 Menschen bei Bopp & Reuther in Lohn und Brot. Im 20. Jahrhundert überstand der Betrieb die Höhen und Tiefen des Landes und ist heute im Besitz einer Beteiligungsgesellschaft. Eine beeindruckende Saga von Leistungswille und sozialer Verantwortung, an die heute noch viele Hydranten erinnern – auch im heutigen Kaliningrad.

In der Herzog-Albrecht-Allee 19a lebte die Familie des Kaufmanns Rudolf Bistrick, die eine lokale, aber nicht minder beeindruckende Unternehmergeschichte schrieb. Rudolfs Vater Walter Bistrick (1869-1927) absolvierte in Berlin und Bonn eine Lehre zum Uhrmacher und gründete 1893 im Vorderroßgarten 35-36 einen Uhrenladen, der später noch eine Filiale in der Poststraße 16 am Steindamm bekam. Bistrick schuf eines der größten Uhrenfachgeschäfte in Deutschland (für Königsberg stellte er sogar eine neue Uhr für die Tragheimer Kirche her). Nach seinem Tod führte seine Frau Martha das Geschäft weiter. Als beide Werkstätten bei den Luftangriffen auf Königsberg zerstört wurden, ging es in Ausweichquartieren bis zum Kriegsende weiter. Von Martha Bistrick ist überliefert, dass sie 1945 in der Schlacht um Königsberg verhungerte. Rudolf fiel 1945 bei den Kämpfen am Nordbahnhof. Einzig der weitere Sohn Arnold Bistrick (1910-1989), Teilnehmer einer konservativen Widerstandsgruppe in der Diktatur und Überlebender einer Verhaftung des Regimes und des Krieges, wagte in Hamburg einen Neuanfang. Bistrick – auch hier ein bleibendes Beispiel aus der Vergangenheit, das bis heute Inspiration und Vorbild gibt.

Wenn man sich das Luftbild von Maraunenhof anschaut, fällt ein großer Kirchenbau auf. Er wurde 1913 für die evangelische Gemeinde als „Neue Tragheimer Kirche“ im neoromanischen Stil fertiggestellt. Zum 450. Geburtstag Martin Luthers 1933 wurde sie in „Herzog-Albrecht-Gedächtniskirche“ umbenannt. Außergewöhnlich war ihr mächtiger Vierecksturm, der ein hohes Kirchenschiff durch die Straße zog. Die Uhr war asymmetrisch zur Seite gesetzt – ein architektonisches Detail, das sich 1929 am neugebauten Arbeitsamt an der Laak (heute eine Zweigstelle der St. Petersburger Universität) an einem kubistisch angelegten Gebäude wiederfinden sollte. Man sieht hieran, wie sehr sich die Baumeister Königsbergs gegenseitig inspirierten und Anregungen aus der Vergangenheit geschickt in eine zeitgemäße Gegenwart übertrugen. Die Kirche in Maraunenhof hat den Krieg mit Schäden überstanden, verfiel jedoch in den Jahren danach und wurde 1972 gänzlich abgetragen. Das Gemeindehaus ist erhalten und beherbergt heute eine Musikschule für Kinder.

Auf dem früheren König-Ottokar-Platz steht eine Büste, die einem Deutschen gewidmet ist. Sie zeigt den Namensgeber der heutigen uliza Telmana, Ernst Thälmann (1886-1944); ein Fragment aus der sowjetischen Zeit Kaliningrads. Dahinter verläuft eine Straße in nördlicher Richtung, die uns unseren weiteren Wanderweg weisen will.

Jörn Pekrul