Der Geist altert nicht und stirbt nicht
Unser Autor Jörn Pekrul, den unsere Leserinnen und Leser durch seine inhaltsreiche Reportagenreihe „Königsberger Wanderung“ kennen, berichtet in diesem Beitrag über sein Treffen mit dem gebürtigen Königsberger und Musiker Michael Wieck, dem Autor des Buches „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“.
An der nordwestlichen Ecke von der Schrötterstraße (ul. Krasnaja) zur Steinmetzstraße (ul. Stepana Rasina 26) steht im heutigen Kaliningrad ein Haus, das nach dem Krieg neu aufgebaut wurde. Es ist sogar auf dem russischen Stadtplan in Google Maps erwähnt als Dom Mikhaelya Vika. Das Fundament und die Keller dieses Hauses stammen noch vom Vorgängerbau. Das sagte mir ein Bewohner, der hier lebte: Michael Wieck!
Michael Wieck wurde am 19. Juli 1928 als Sohn der Musiker Kurt Wieck und Hedwig Wieck-Hulisch geboren. Die Eltern waren Gründer und Mitglieder des um 1919 gegründeten Königsberger Streichquartetts. Eine entfernte Verwandte von Wieck war die Pianistin Clara Schumann-Wieck (1819-1896), die Ehefrau von Robert Schumann. Da Michael Wieck’s Mutter jüdischer und der Vater christlicher Konfession war, wuchsen die Kinder in der Tradition der mütterlichen Seite auf. Ein lebensgefährliches Kriterium wurde dieser Alltag nach 1933. Das Unheil kündigte sich in einem harmlos erscheinenden Verwaltungsakt an: die Synagogenstraße in der Vorstadt, Standort einer Synagoge nach dem großen Speicherbrand von 1811, wurde umbenannt (sie hieß fortan Seilerstraße). Es begann der staatlich organisierte Terror gegen die jüdischen Einwohner der Stadt und im Land. Michael Wieck erlebte die Verunglimpfungen, die Ausgrenzungen, die Brutalitäten, dann die Vertreibungen und schließlich die Deportationen. Eine von ihm sehr geliebte Tante gehörte zu den ersten Bürgern Königsbergs jüdischer Konfession, die ab dem 24. Juni 1942 in die Vernichtungsstätten verschleppt wurden. Er selbst überlebte diese Zeit als Zwangsarbeiter in einer Königsberger Chemiefabrik und verstand es mit kindlichen, später jugendlichen Kräften, seinen Vater und besonders seine Mutter zu unterstützen. Seine Schwester entkam 1939 mit einem Kindertransport der Quäker nach Schottland – sie war getrennt, aber in Sicherheit.
Die Familie Wieck überlebte die Bombardierung und Zerstörung Königsbergs im August 1944, die Festungszeit und die Eroberung der Stadt am 09. April 1945. In dieser schweren Zeit entwickelte er Fähigkeiten, die nur noch das kreatürliche Leben weitergehen ließen: mit Mut, mit Kraft, mit Einfallsreichtum, mit Intelligenz. Und immer wieder: die tröstende Kraft der Musik, und sei es nur in Gedanken.
1948 kam die Familie Wieck nach West-Berlin, wo er Musikabsolvent der Berliner Hochschule und später zweiter Konzertmeister im Kammerorchester Berlin wurde. 1961, nach dem Bau der Berliner Mauer, zog er nach Neuseeland, kehrte aber 7 Jahre später nach Deutschland zurück. „Die Wurzeln unseres Seins ließen sich nicht aus dem deutschen Grund herausreißen.“ Er wurde Erster Konzertmeister des Stuttgarter Kammerorchesters und ab 1974 auch der Erste Geiger im Radio-Symphonieorchester Stuttgart, dem er bis zu seiner Pensionierung 1993 angehörte.
Als Michael Wieck 1992 nach Kaliningrad kam, traf er Menschen, die ihn noch von damals kannten. In der Philharmonie spielten bei diesem Besuch russische und deutsche Musiker Werke von Mozart, Beethoven, Schumann und Sarasate. Michael Wieck schrieb nach den Begegnungen, wie sehr ihn die musikalische Begabung der Kaliningrader Kinder beeindruckte.
1988 veröffentlichte Wieck in Deutschland seine Erinnerungen unter dem Titel „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“. Seine Kindheit und Jugend am Abgrund der Vernichtung, die Existenzangst in dieser Zeit, und der Wille zum eigenen Leben bei gleichzeitiger Fürsorge für die Eltern. Seine Reflexionen über Schuld und Unschuld waren in den Jahren seiner Identitäts- und Heimatsuche zu einer Reife gelangt. Er reflektiert über die Schwierigkeiten einer Identität, die – bei negativer Auslegung – auch eine geistige Uniform sein kann, die andere Menschen ausgrenzt. Er sieht die Schwachstelle in den destruktiven Veranlagungen, die jedem menschlichen Wesen innewohnen. Sie können im unheilvollen Zusammenspiel von Ichwahn, Machtmissbrauch und Angstlähmung der Gefährdeten zu jeder Zeit neu ausbrechen. Der Mensch ist ein zweigeteiltes Wesen, das gefährdet bleibt. Einen Verweis gibt er an einer Stelle – darin ganz Königsberger – auf Immanuel Kant und hier besonders auf dessen Schrift zum ewigen Frieden. Der Mensch als Teil eines unendlichen, unbegreiflichen Ganzen, der Verantwortung übernehmen muss und seine Kräfte konstruktiv ausleben muss.
Wer Michael Wieck traf, war schnell in den Bann seiner Persönlichkeit gezogen. Seine Klarheit selbst im hohen Alter, seine stille und tiefe Lebensbejahung, und seine freundliche Ausgeglichenheit werden in den Menschen, die ihm begegneten, noch lange nachhallen. Als wir uns begegneten, war der Altersunterschied von einer Generation nicht zu bemerken. Wir fanden unmittelbar zueinander und begaben uns in einen reichen Austausch von Worten und Blicken, vom Echo des Gehörten im Schweigen, bis die Reflexion angemessene Worte für die Fortführung des Gedankens gefunden hatte. Der Alltag und die Umgebung verloren ihre Relevanz. Es begann eine gemeinsame, intensive Reise in Zeit und Raum, zwischen Ost und West, zwischen Gestern und Vorgestern. Michael Wieck hat in seinem kleinen Alterswerk „Ewiger Krieg oder ewiger Friede?“ diese Gedanken in mutmachenden Worten festgehalten. Man merkt bei der Lektüre, dass es ein Königsberger ist, der dieses Buch geschrieben hat.
Am 27. Februar 2021 verstarb Michael Wieck in Stuttgart in seinem 93. Lebensjahr. Doch er sah in seinem Weltbild schon über das Irdische hinaus. Eine Kraft, die zeigt, dass der Geist nicht altert und nicht stirbt. Im Diesseits bleibt uns sein geistiges Vermächtnis als Teil des „genius loci“ von Königsberg erhalten.
Jörn Pekrul