Königsberger Wanderung
Unser deutscher Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, finden bei unseren Leserinnen und Lesern großen Zuspruch. Wir wollen ihn nun auf seiner 32. Wanderung begleiten.
DER WEG DES BERNSTEINS
Teil 32 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung von KE 11-12/2020, 1-12/2021, 1-12/2022 und 1-5/2023
Gleich neben dem Bernsteinmuseum ist ein kleines Törchen, das auf einen Innenhof und dann zur Promenade auf der östlichen Seite des Oberteichs führt. Lassen Sie uns diesen Weg einschlagen und noch etwas von der Bernsteinverarbeitung in Königsberg hören.
In den Anfängen Königsbergs war es der Deutsche Orden, der mit seinem „Bernsteinregal“ eine gesetzliche Regelung zum Vorkaufsrecht von gefundenem Bernstein etablierte (siehe KE-6/2021). Ähnliche Regelungen hatten sich bis in die Neuzeit erhalten. Hieraus befindet sich auch heute noch, südlich des Pregels, in der ehemaligen Sattlergasse Nr. 6 / Ecke Knochenstraße (ul. Portowaja / ul. Serpuchovskaja) ein zweigeschossiges Haus, dessen üppige Dekoration auf das späte 19. Jahrhundert hinweist. Ein schweres Sockelgeschoß mit Quadern (die aber nur Putz sind), und darüber zwei Fensterreihen im Stil der italienischen Renaissance. Ein prächtiges Portal führt in das Gebäude, das vor dem Krieg über eine Vorhalle in Arbeitsräume für 200 Arbeiter und 14 Beamte führte. 400 Heimarbeiterinnen ergänzten das Werk, denn hier befand sich die Staatliche Bernsteinmanufaktur in Königsberg. 1858 begründete der jüdische Kaufmann und spätere Kommerzienrat Moritz Becker (1830-1901) mit seinem Compagnon Wilhelm Stantien (1817-1891) die Königsberger Bernsteinindustrie mit der Firma „Stantien & Becker“.
1872 entstand ein erstes Bernsteinwerk in Palmnicken, und bereits 1883 führte Becker das größte Industrieunternehmen in Ostpreußen. Bis 1899 wurde auch Bernstein aus dem Kurischen Haff gefördert. Hochgeachtet von den Kaisern Wilhelm I. und Wilhelm II., verkaufte Becker im Zuge einer Monopoldiskussion seine Anlagen an den preußischen Staat, der einen höheren Kaufpreis zahlte als veranschlagt. Becker lebte danach in Wien, siedelte dann aber nach Berlin über. 1901 starb er während eines Kuraufenthaltes auf Usedom. Seine Witwe Henriette gründete einen Verein für Wohltätigkeit und Frauenbildung und unterstützte mehrere karitative Vereine mit großzügigen Spenden.
Übrigens wurde der Sohn des Ehepaares, Benno Becker (1860-1938) ein berühmter Landschaftsmaler. Seine Werke aus Ostpreußen und Süddeutschland, aber auch aus der Toskana, zeichnen sich durch zarte Töne ohne starke Kontraste aus. 1892 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Münchener Sezession – einer Künstlervereinigung, die eine Weiterentwicklung des Historismus in der Kunst anstrebte. Der große Lovis Corinth aus Tapiau (heute Gwardejsk) schuf 1892 dieses Bildnis von Benno Becker.
Man staunt, wie viele Wege von dieser Stadt aus in die Kulturgeschichte gingen. 1926 wurde die Staatliche Bernsteinmanufaktur Königsberg gegründet. In der Blütezeit der 1920er und 1930er Jahre beschäftigte die Bernsteinmanufaktur bis zu 1.500 Menschen, darunter wahre Künstler ihres Fachs. Eine davon war Frau Toni Koy (1896-1990). Geboren in Wormditt, erlernte sie in Hanau das Handwerk der Schmuckherstellung und zog 1920, mit Unterstützung ihres Vaters, nach Königsberg und eröffnete eine kleine Goldschmiedewerkstatt. 1936 legte sie die Meisterprüfung ab. Toni Koy bearbeitete den Bernstein mit einem fast anthroposophischen Ansatz: ein Naturprodukt des Meeres, mystisch fast, das über seelische und geistige Kräfte den Dialog mit der Künstlerin aufnimmt, die ihn ganz allein und individuell gestaltet. Um das Eigenleben des Bernsteins zu erhalten, verwendete Toni Koy alle sonstigen Ornamente nur sparsam. Sie bevorzugte karge Silberfassungen, die den Bernstein diskret einfassten. Ein weiterer Künstler der Bernsteinmanufaktur war Hermann Brachert. Das Leitmotiv in dieser Zeit war die „gute und schöne Form“, schlicht und einfach. Erst nach Errichtung der Diktatur erfolgte eine Trivialisierung. Nun wurden viele brachiale Produkte gewünscht, die natürlich auch der Propaganda dienten.
Toni Koy zog nach dem Krieg nach Annaberg im Erzgebirge, wo sie aus eigener Kraft wieder eine Werkstatt aufbaute. Mit ihr, als sie 1990 in einem Pflegeheim im Annaberg-Buchholz starb, ging eine der ganz Großen ihres Berufes. Die Bernsteinmanufaktur wurde nach dem Krieg in ein Wohnheim umgewandelt. Die hohen Dachgauben gingen dabei verloren.
Die Erfolgsgeschichte von Moritz Becker weist auch auf die weitgehende Assimilierung der jüdischen Gemeinde in Königsberg und Preußen am Ende des 19. Jahrhunderts hin. (Ein weiteres Zeugnis dessen ist der Bau der Neuen Liberalen Synagoge am Weidendamm in dieser Zeit. Die Synagoge wurde später zerstört und 2018 in Kaliningrad wieder errichtet). Damit ist ein Kuriosum in den Annalen der Stadtgeschichte verbunden. Als der Militärfiskus 1906 eine Bresche in die Stadtmauer legte, um einen Zugang zur Villenkolonie Maraunenhof zu schaffen, erhob eine kleine, aber einflussreiche Gruppe strenggläubiger jüdischer Königsberger Einspruch. Die Lücke mache aus der geschlossenen Stadt eine offene, was es verbiete, am Sabbat etwas zu tragen oder mehr als tausend Schritte zu gehen (was die Villen am Stadtrand unerreichbar gemacht hätte). Die aufgeklärten Juden lachten darüber, aber die strenggläubigen unter ihnen unter Wortführung des Bankiers George Marx verlangten eine Lösung. Sie wurde in nüchterner Vernunft, wie sie in der Stadt am Pregel zuhause war, geschaffen: Über die Bresche wurde in luftiger Höhe ein Draht gespannt, der den Verkehr nicht behinderte, aber symbolisch eine Geschlossenheit darstellte. Man nannte ihn den „Judendraht“. Es war kein Königsberger Unikum. Auch aus dem jüdisch geprägten Dorf Zabeln in Kurland wurde von Drahtverbindungen zwischen den Häusern berichtet. Man sieht: Es findet sich für alles eine gütliche Lösung, wenn alle zu einem Kompromiss bereit sind. Der Stadtteil Maraunenhof empfängt uns mit einem entzückend geschmückten Blumenfenster.
Jörn Pekrul