Wie viele Geheimnisse bergen die Dünen der Kurischen Nehrung? Foto: I.S.

Die Kraft der Kurischen Nehrung

Wer aus dem Großstadttrubel auf die Kurische Nehrung kommt, verspürt quasi „ein erweitertes Bewusstsein“: Der „innere Motor“ der Alltagshetze schaltet zurück und man glaupt Anschluss an die uralten Sagen, Märchen und Überliederungen gefunden zu haben.

Der beginnende Sommer eröffnet die Reisesaison, und man denkt an leichte Tage abseits der Arbeitspflichten. Im Kaliningrader Gebiet sind die Ziele heute nicht nur die Bernsteinküste des Samlandes, sondern u.a. auch die Kurische Nehrung, die seit Jahren einen signifikanten Zuwachs an Besuchern verzeichnet (wenngleich die lokalen Behörden die Besucherströme im Sinne des Naturschutzes steuern). Das war nicht immer so.

Die Kurische Nehrung ist eine 98 km lange Halbinsel, die an der Nordküste des Samlandes beginnt und am Memeler Tief (Klaipeda in Litauen) endet. Sie verläuft auf einer tektonischen Linie, die sich in etwa von Königsberg/Kaliningrad bis Riga zieht und in ca. 2.300 Metern Tiefe ihr Fundament hat. Der Name entstand als Richtungsanzeige aus Königsberger Sicht dorthin, wo früher das Volk der Kuren lebte: in Kurland und Livland (entsprechend bezeichnete man die Frische Nehrung auch als „Danziger Nehrung“). Die Kurische Nehrung war in ihrer Geschichte ein vergessenes Gebiet. Da gab es zwar in neuerer Zeit die Poststraße von Königsberg nach Memel, und im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich sogar ein bescheidener Tourismus mit einer Segelflugschule und Badegästen, die in den Dörfern auf der Haffseite logierten.

Die Dünenbefestigungen des preußischen Forstschutzbeamten Wilhelm Franz Epha (1828-1904) bannten den Schrecken der Wanderdünen, doch das Leben der Menschen, die hier lebten, blieb hart. Die große Königsberger Schriftstellerin Gertrud Papendick gibt in ihrer Erzählung „Die Fahrt mit dem Schatten“ ein Stimmungsbild der Nehrung wieder, wie sie in früher Zeit noch war: ein schmales Band des Landes; ein armer, leerer, endloser Streifen zwischen den großen Wassern. Der Weg schien endlos in die Ewigkeit zu führen, mit Sand und Sand und Sand, dann wieder ein Kiefernwald und Birken, Schilf und Binsen und schwarze Wasserlöcher. Und dann wieder der Sand. Über allem die Einsamkeit und das große Schweigen des Himmels. Es war die See zu einer Seite und das Haff zur anderen Seite. Hoch oben war der Wind in den Kronen der Kiefern, und darüber die ziehenden Wolken, die manchmal unheimliche Gebilde formten.

Alles war durchzogen von einer Stille und einer Einsamkeit, auf der man nie einen Menschen traf. Es hieß, dass derjenige, der alleine über die Nehrung geht, im großen Schweigen verschwindet. Man sagte, dass es der Pfad der Verlorenen und der Verdammten sei. Hier waren noch Wesen spürbar, die nicht von dieser Welt stammten. Sie stiegen als Schatten herauf aus dem Moor, sie hockten im Dünensand, und sie lauerten am Wegesrand.

In den Fischerfamilien auf der Nehrung wurde die Gewissheit von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben, flüsternd und leise, damit nicht ein lautes Wort den Zorn der Unsichtbaren weckte: Die alten Götter waren nicht tot. Sie mögen vertrieben worden sein aus dem Leben der Städte und der Landstraßen, von den Märkten und von den Kirchen. Aber sie lebten weiter – zurückgezogen tief in den Wäldern, in Heide und Moor. Wehe dem, der sie laut und dreist beim Namen nannte. Uralte Sagen, die durch die Jahrhunderte wenig Einfluss von außen zur Ausschmückung bekamen. Man darf sie als authentisch aufnehmen.

Wenn man auf der Nehrung wandert, alleine und zu einer Jahreszeit, die wenig attraktiv für Feriengäste ist, dann versteht man, dass es nicht nur Märchen sind, die hier überliefert wurden. Die Dünen legen ein großes Schweigen auf alles, was sich in ihnen bewegt. Jedoch: Der moderne Mensch kommt in ihnen zur Ruhe.

Der „innere Motor“ der Alltagshetze schaltet zurück, und man meint ein erweitertes Bewusstsein zu verspüren, das Anschluss findet an die uralten Sagen und Überlieferungen. Man mag es sich bildlich vorstellen als ein Wurzelwerk, das mit seinen fernen Trieben auch noch in den Nachgeborenen wirkt. Doch nicht nur das.

Die Kraft der Kurischen Nehrung ist empfänglich für den, der sich ihr zu öffnen bereit ist. Der große Fotograf Igor Sarembo schien dies verstanden zu haben. Mit seinem begnadeten Talent der Kamera fing er Momente ein, die die Kurische Nehrung voller Realismus und dennoch voller Poesie zeigen. Es sind Aufnahmen von einer Empfindsamkeit, die eine Ahnung gibt von dem Geheimnis, das dieser Landstrich verbirgt. Er hat sie uns in seinem Buch „Kurische Nehrung – eine Reise in Bildern“ weitergegeben. Ich nehme es regelmäßig aus dem Bücherregal. Es ist ein Einstieg, der auch an unseren jeweiligen Wohnorten umgesetzt werden kann: die Stille einer hellen Frühlingsnacht, bewusst reflektiert zur Besinnung auf das Selbst und seine Position in unserer Umwelt und die Rückgewinnung der eigenen Kraft. Eine innere Reise, an dessen Ende die Rückkehr in den Alltag unserer heutigen Wohnorte erfolgt. Und ein Gefühl, das beim Anblick des Vertrauten sagt: Wie vieler Liebe bedarf dies alles!

Jörn Pekrul