Königsberger Wanderung
Unser deutscher Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, kommen bei unseren Leserinnen und Lesern gut an. Wir wollen ihn nun auf seiner 30. Wanderung begleiten.
MILITÄR UND KUNST
Teil 30 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-12/2021, 1-12/2022 und 1-3/2023
Am südlichen Ende des Oberteiches eröffnet der Wrangel-Turm unseren nächsten Wanderungsabschnitt. Der Namensgeber, Friedrich Heinrich Ernst Freiherr von Wrangel (1784-1877) war ein preußischer Generalfeldmarschall, der in den Befreiungskriegen gegen Napoleon erste Meriten erwarb. Er galt als draufgängerischer Truppenführer, der sich von nichts und niemandem einschüchtern ließ.
Schneidig, konservativ, königstreu und hochdiszipliniert, dabei aber volkstümlich und mit einem manchmal recht derben Witz und Humor – so die Mär. Immer ein paar Bonbons für die Berliner Straßenjugend in der Tasche, wusste er auch bei Hofe zu bestehen: Als ihn einmal eine Prinzessin als Tischdame belehrte, dass Handschuhe aus Wildleder das beste für zarte Haut seien, konnte er mit seiner Lebenserfahrung keine Bestätigung abgeben: „Das überrascht mich, Prinzessin! Ich trag nun fünfzig Jahr Reithosen aus Wildleder und hab einen Hintern wie ein Reibeisen.“ Anekdoten wie diese ließen ihn als „Papa Wrangel“ in das kollektive Gedächtnis der damaligen Deutschen eingehen.
Der nach ihm benannte Turm wurde 1853 gebaut. Er sollte mit dem gegenüberliegenden Dohna-Turm den Stadteingang am Oberteich absichern. Der „Wrangel“ fußt, wie der „Dohna“, auf den technischen Lehren des französischen Ingenieurs Marc-Rene Marquis de Montalembert (1714 -1800). Er verteilt dabei möglichst viele Geschütze mit Rundum-Wirkung. Das Untergeschoss hat mehrfache Winkel (meistens ist es ein Zwölfeck) und Schießscharten, welche die Eingangstore absichern. Im Obergeschoss befinden sich Gewölbe für Geschütze, und auf dem Dach stehen eine gezackte Brustwehr und ein Beobachtungsturm. Nach diesem Prinzip ließ General Ernst Ludwig von Aster (1778-1855, sein Portrait ziert eines der Medaillons am Brandenburger Tor im Süden der Stadt) den „Wrangel“ wie auch den „Dohna“ ausführen. Beide Türme haben einen Durchmesser von 34 Metern und ragen 12 Meter in die Höhe. Die Verbindung der einzelnen Ebenen erfolgt durch eine zentrale Treppe. Die Türme dienten zu Beginn des 20. Jahrhunderts u.a. als Übernachtungsmöglichkeiten für Jugendgruppen.
Was aber die Königsberger besonders erfreute, war eine Skulptur, die 1924 vor dem „Wrangel“ aufgestellt wurde. Sie zeigte den „deutschen Michel“ als einen kräftigen Bauern, der über seiner linken Schulter einen Dreschflegel hielt. Mit seiner rechten Hand säte er Getreide aus. Das Werk war bereits 1904 erschaffen worden. Sein Schöpfer, Friedrich Reusch (1843-1906) bediente mit seinen Werken das Nationalgefühl der Deutschen im Kaiserreich um 1870. Und dann ausgerechnet der „Michel“, und dazu noch mit der obligaten Schlafmütze! Denn seit der Renaissance, als der Humanismus die lateinische Sprache zur Kommunikation verwendete, galt „deutsch“ als die Sprache des Volkes. Und vielleicht hat sich damals auch manch fremdländischer Besucher über irgendetwas geärgert – man weiß das nicht mehr –, aber der „Michel“ war geboren: der Deutsche, ein völlernder, saufender und schlaftrunkener Mensch im ausgehenden Mittelalter.
Dabei verkündete ein satirisches Flugblatt im Dreißigjährigen Krieg gegen den Gebrauch der Fremdwörter: „Ich teutscher Michel / Versteh schier nichel / In meinem Vatterland / Es ist ein Schand“. Die Sprache emanzipierte sich mit der aufkommenden Buchkultur (1722 wurde Gräfe und Unzer in Königsberg gegründet), die deutsche Dichtung blühte auf und erreichte ungeahnte Höhen, und das Bild des „deutschen Michels“ wandelte sich in „gemütlich, bieder und mit einem privaten wie öffentlichen Ruhebedürfnis.“ Der „Wrangel-Michel“ war seit 1904 ein „Ladenhüter“ im Atelier des Künstlers, denn der Zeitgeschmack hatte sich geändert. Reusch schenkte ihn der Stadt Königsberg, die ihn gnädig im Garten des Prussia-Museums aufstellte. Von dort kam er 1924 auf sein Podest am „Wrangel“. Und auf irgendeine sonderbare Weise hatten ihn die Königsberger schnell liebgewonnen. Die Kunstsachverständigen hoben die Augenbrauen, doch die Menschen mochten „ihren Michel“. Er wurde zu einem festen Punkt in der Stadt und blieb dort auch bis zum Ende, als die Skulptur bei den Kämpfen in Königsberg am Ende des II. Weltkrieges zerstört wurde.
Doch noch ein Wort zu dem Künstler. Friedrich Reusch kam aus einer Schreinerfamilie aus Siegen im Rheinland und erregte durch eine Schnitzarbeit die Aufmerksamkeit des Berliner Bildhauers August Kiß (1802-1865), der ihn zum Studium in der Hauptstadt riet. Reusch entwickelte sich zum Bildhauer und Hochschullehrer und wurde 1881 als Professor an die Königsberger Kunstakademie berufen, deren Direktor er später wurde.
Die Albertina verlieh ihm die Ehrendoktorwürde. In Königsberg schuf er u. a. noch die bekannten Denkmäler von Kaiser Wilhelm I. an der südwestlichen Ecke des Schlosses (wo es, stark beschädigt, von den sowjetischen Behörden in Kaliningrad erst Anfang 1950 entfernt wurde), Otto von Bismarcks und von Herzog Albrecht, das am Haberturm des Schlosses stand und heute als Replik vor dem Kant-Grab an der Stoa Kantiana steht. Ein Herzleiden, das 1900 auftrat, zwang Reusch – der allein lebte – 1904 zur Aufgabe seiner Lehrtätigkeit. 1906 starb er während eines Erholungsaufenthaltes in Sizilien. Sein Grab befindet sich in seiner Heimatstadt Siegen. Als sein „deutscher Michel“ 1924 auf sein Podest am „Wrangel“ kam, hatte nebenan bereits 1913 Friedrich Lahrs die Kunsthalle eröffnet. Die Moderne brach sich mit Macht ihre Bahn.
Jörn Pekrul