„Jeden Sonntag beten wir gemeinsam für den Frieden“
KE sprach mit Sergej Holzwert (54), Propst der Evangelisch-Lutherischen Gemeinden im Kaliningrader Gebiet.
KE: Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, die Fragen unserer Redaktion zu beantworten. Erzählen Sie uns bitte über Ihre Gemeinden. Wo befinden sie sich und wie viele Gläubige kommen zu Ihnen?
S. H.: In Kaliningrad haben wir 180 und im Gebiet ca. 1.000 Gemeindemitglieder. 620 Gläubige sind im Gemeindeleben aktiv. Die Zahl der Gemeindemitglieder nahm in der vergangenen Zeit ständig zu. Wenn es sich dabei in anderen Teilen des Landes hauptsächlich um Russlanddeutsche handelt, so ist die ethnische Zugehörigkeit in Kaliningrad ganz unterschiedlich. Wie übrigens auch die Verteilung nach Altersgruppen. Wir haben viele Jugendliche und Kinder, für sie gibt es bei uns eine Sonntagsschule. Vielleicht erklärt sich die Vielfalt dadurch, dass wir unsere Türen für ganz unterschiedliche Begegnungen und auch für Konzerte – sowohl Klassik als auch Rock-Musik – offenhalten. Die Einnahmen davon sowie Spenden geben wir zur Unterstützung Bedürftiger weiter. Wir sind stolz darauf, dass unsere Hauptkirchen historische Bau- und Kulturdenkmäler sind, wie beispielsweise die 1350 erbaute Kirche in Gwardejskoje/Mühlhausen, die Salzburger Kirche in Gussew/Gumbinnen von 1840 und die Kirche in Turgenewo/Groß-Legitten, die aus dem 14. Jahrhundert stammt. Wir haben insgesamt 25 Gemeinden an verschiedenen Orten des Gebietes, wie z. B. in Selenogradsk/Cranz, Polessk/Labiau, Prawdinsk/Friedland, Gwardejsk/Tapiau. Einige von ihnen sind sehr klein und bestehen nur aus zwei oder drei Personen, so beispielsweise im Kreis Gussew.
KE: Lohnt sich der Unterhalt solcher Gemeinden?
S.H.: Das ist keine leichte Frage und die Antwort darauf muss differenziert ausfallen. Es soll nicht das Werk meiner Vorgänger zerstört werden, des ersten Propstes Kurt Beyer und der auf ihn folgenden Pröpste Peter Wittenburg, Erhard Wolfram, Heye Osterwald und weiterer, die in den vergangenen Jahren hier gewirkt haben. Wenn Gottesdienststätten geschlossen werden, müssen die Leute zu Gottesdiensten in der Nähe gebracht werden und wir dürfen sie in ihrer Alltagsbewältigung nicht vergessen. An diesen Orten sind dann andere Projekte umzusetzen. In der Gemeinde Bolschaja Poljana (ehem. Paterswalde), wo nur noch ganz wenige Gemeindemitglieder sind, wollen wir ein Haus für Frauen eröffnen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind. Es gibt auch andere Ideen.
KE: Wer finanziert Ihre Gemeinde?
S. H.: Zu 95 % die Nordkirche in Deutschland. Wir versuchen auch selbst, Einnahmen zu erzielen, indem wir Gebäude und Räume vermieten, auch an unseren Gottesdienststätten, oder Eintritte für Konzerte verlangen. Die geplante Verringerung der Anzahl unserer Gemeinden soll die Ausgaben für Nebenkosten, Steuern und Löhne optimieren.
KE: Sie haben Ihr Amt im September 2021 angetreten, im Februar 2022 begann die „Spezialoperation“ in der Ukraine. Der KE berichtete über die Probleme, die dadurch auf Sie zugekommen sind. Wegen der Sanktionen konnten keine Geldüberweisungen ausländischer Banken mehr erfolgen, für Sie bedeutende Projekte waren gefährdet. Das Carl-Blum-Haus, ein Altersheim im Kreis Osjorsk (ehem. Darkehmen), hätte fast geschlossen werden müssen. Wie haben Sie es geschafft, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden?
S. H.: Wir haben den Kopf nicht hängen lassen und gemeinsam nach Lösungen gesucht, wie wir unsere Gemeindemitglieder weiter unterstützen können. Der russische Unternehmer Igor Morosow übernahm einen großen Teil der Kosten für den Unterhalt des Altersheims. Die Zahl der Bewohner ist nicht nur nicht zurückgegangen, sondern sogar von 13 auf 21 gestiegen. Der Gemeinde war es möglich, sich zu einem Teil an der Finanzierung dieses Projektes zu beteiligen. Wir bezahlen die Stromrechnungen und versorgen das Heim mit humanitären Hilfsgütern. Und wir sind von Herzen unseren deutschen Freunden dankbar, die ungeachtet der entstandenen Schwierigkeiten weiterhin materielle Unterstützung leisten.
KE: Haben Sie keine Angst, dass man die Gemeinde oder Sie als Propst zu „ausländischen Agenten“ erklärt?
S. H.: Nach einem Gesetz der Russischen Föderation, das im Dezember vorigen Jahres in Kraft getreten ist (gemeint ist das Gesetz mit dem Titel „Aufsicht über die Tätigkeit von Personen, die ausländischem Einfluss unterliegen“ – Anm. der KE-Red.), dürfen ordnungsgemäß eingetragene religiöse Organisationen nicht zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden – ganz unabhängig davon, aus welchen Quellen sie sich finanzieren. Das gibt Hoffnung. Was noch sehr wichtig ist: Wir fühlen uns von der hiesigen politischen Führung unterstützt. Ich bin Mitglied in einem „Rat für religiöse Angelegenheiten“, der dem Gouverneur unterstellt ist. Wir haben gute Beziehungen zu den Vertretern aller Konfessionen im Gebiet. Wir unterhalten Kontakte zur lutherischen Kirche in der Ukraine und spüren keinerlei Widerstand seitens der ukrainischen Geistlichen. Wir sind alle Brüder in Christo.
KE: Kann die Kirche den Frieden ein Stück näherbringen, das Blutvergießen beenden?
S. H.: Die Kirche kann nur beten. Ich weiß, dass Gott uns hört. Jeden Sonntag beten wir in der Evangelisch-Lutherischen Gemeinde in Kaliningrad und in den anderen kleinen und großen Gemeinden für den Frieden. Wir beten nicht gegen jemanden, wir beten immer nur für jemanden oder um etwas. Für ein glückliches und friedliches Leben, für die Kinder, denen die Kindheit genommen wird, für diejenigen, die Schmerzen und Leid erfahren.