Frühling in Ostpreußen
In Ostpreußen kam der Frühling nicht, er brach plötzlich herein. Eines Tages ging es ganz schnell, so wurde immer erzählt, es wurde warm, und dann grünte und blühte es.
Der 20. März gilt offiziell als „Frühlingsanfang“. Der Winter verabschiedet sich offenbar, wie es in dem bekannten Lied „Im Märzen der Bauer“ besungen wird. „Im Märzen der Bauer die Rösslein anspannt“, heißt es da, und jeder glaubt, dieses Liedchen genau zu kennen. Doch es gibt kleine Unterschiede, ein Zeichen dafür, dass es ein Volkslied ist, und es stammt aus Mähren, wie das „Ostdeutsche Liederbuch“ mitteilt. Als Quelle wird dort „Gustav Kneip“ angegeben.
Wie dem auch sei, der Bauer setzt seine Felder und Wiesen instand, pflügt und sät und „rührt seine Hände frühmorgens bis spät“. Auch die Bäuerin und die Mägde sind voller Tatkraft. Sie bestellen den Garten und freuen sich, „wenn alles schön grünet und blüht“. Und das alles soll im März möglich sein?
Ganz so war es in Ostpreußen nicht. Im März lag mitunter durchaus noch Schnee, und bis es grünte und blühte – das konnte noch dauern. Dr. Lau hat uns ein „Ostpreußisches Klagelied“ geschrieben. Es müsste besser heißen: „Klagelied eines enttäuschten Ostpreußen“ oder noch besser: „eines leichtsinnigen Ostpreußen“. Dieser war auf die ersten wärmenden Sonnenstrahlen hereingefallen und glaubte, der „Friehling“ wäre endgültig da. Er hat die Doppelfenster ausgehängt und die Rosen im Garten abgedeckt. Das war sehr kurzsichtig!
Dann scheint es sich bei dem „lyrischen Ich“ (wissenschaftlich ausgedrückt), also bei der Person, die da ziemlich gnadderig und knarzig vor sich hin schabbert (die also, ostpreußisch ausgedrückt, knurrig und mürrisch vor sich hin redet) um eine Dame zu handeln. Ihr schwebte ein Frühlingsspaziergang am Sonntag vor. Dafür hatte sie bereits aus der Kommode auf der Lucht (Dachboden) „dinne Kleider“ vorgesucht und die Mauchens (wollene Fausthandschuhe) in die Schublade gesteckt. „Und die Blus mit rote Tippels (Punkte)/Hadd ich vor all (schon) anzuziehen.“ Doch am Sonntag kommt das böse Erwachen: Draußen ist alles weiß bereift und gefroren. Die Bluse und der gelbe Strohhut haben keine Chance. Und das Schlimmste: Das Pelzche ist bereits eingemottet. Das ist ein schwerer Fehler in ostpreußischen Gefilden. Denn dort hieß es: „Ein Preuße von der rechten Art trägt seinen Pelz bis Himmelfahrt.“
Das beobachteten die früheren deutschen Ostpreußen auch bei den heutigen russischen Ostpreußen, als sie endlich die alte Heimat besuchen konnten. Es fällt niemandem ein, bei der ersten Frühlingssonne ohne Stiefel und Mützen und warme Mäntel draußen herumzuspazieren.
„Alle sind noch ganz dick angezogen!“, sagte damals eine deutsche Freundin in Königsberg, die der strahlenden Sonne im März und April vertraute. Gewiss, „De Sonnche lacht!“, schreibt auch Dr. Lau in seinem Gedicht „Frühling“, um gleich hinzuzufügen: „Zu was auch nich?/Was soll se schließlich machen?“ Lachen kann sie ja, die Sonne, aber den Schnee kann sie noch nicht „wegkriegen“, und alles friert noch und „verkiehlt sich“ (erkältet sich). Wer kennt nicht das Gedicht „Frühlingsglaube“ von Ludwig Uhland (1787-1862)? Die erste Zeile zitiert alle Welt: „Die linden Lüfte sind erwacht“. Dr. Lau zitiert den Wortlaut auch, um hinzuzufügen: „Is bloß nuscht von zu merken,/ Und einer muß mit steifem Grog,/Sich gegen’s Hubbern (Frieren) stärken“. Ludwig Uhland aber spricht vom frischen Duft und vom neuen Klang und ruft dem Menschen und seinem Herzen Mut zu. „Nun, armes Herze, sei nicht bang!/Nun muss sich alles, alles wenden.“
In Ostpreußen kam der Frühling nicht, er brach plötzlich herein. Eines Tages ging es ganz schnell, so wurde immer erzählt, es wurde warm, und dann grünte und blühte es. Dann geschieht das, was Ludwig Uhland besingt: „Die Welt wird schöner mit jedem Tag,/Man weiß nicht, was noch werden mag,/Das Blühen will nicht enden.“
Aber die wichtigste Person war und ist immer der Storch, der Adebar. Seine Ankunft läutet den Frühling ein. Auf Plattdeutsch heißt er „Oadeboar“, und das Volkslied über ihn aus Natangen wurde 1877 in Königsberg gedruckt. Es steht in dem Liederbuch „Mein Lied, mein Land“.
Da erfährt man, dass der Adebar „e lange Näs“ (eine lange Nase) hat und „rode Strömpkes an“ (rote Strümpfe an), dass er „e grotet Ei“ (ein großes Ei) legt, das er entzwei hackt, wenn „det Junge ruter wöll“ (wenn das Junge raus will). Wie ein Edelmann spaziert er über das Dach, und seine wichtigste Aufgabe ist es, die Kinder zu bringen. „De Oadeboar, de Oadeboar, dä hätt e dicke Kopp, un wenn er inne Frejoahr wedder kömmt, denn bringt er ons e Popp.“ Ja, im Frühjahr kommt er immer wieder, aber eine Puppe bringt er nicht, sondern ein druggeliges (pummeliges) Baby, entweder einen Luntrus (Kerl) oder eine stramme Marjell (Mädchen). Ostpreußen und die Störche – das gehört bis heute zusammen. Störche zählen ist ein besonderes Vergnügen der Gäste aus aller Welt.
Bärbel Beutner