Königsberger Wanderung
Unser deutscher Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, kommen bei unseren Leserinnen und Lesern gut an. Wir wollen ihn nun auf seiner 27. Wanderung begleiten.
AKTIVA UND PASSIVA
Teil 27 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021, 1-12/2022 und 1/2023
In Königsberg stand die Kaufmannschaft von Anfang an in hohem Ansehen. Sie pflegte Verbindungen zur Universität, und selbst Immanuel Kant zählte Kaufleute zu seinen Freunden wie Motherby, Hay, Bankdirektor Ruffmann oder den Kommerzienrat Friedrich Saturgus.
Die Brüder Friedrich und Adolf II Saturgus, aus einer katholischen Familie eines Weinhändlers aus Düsseldorf stammend, wurden im 18. Jahrhundert sehr vermögende Getreidehändler. Und da zeigt sich, wie verwoben die Stadt ist. Friedrich legte 1753 auf einem Gartengrundstück, unweit von Speicherstadt und Pregel, einen Rokoko-Garten an. Orangerien, Sonnenuhr, Muschelgrotte und weitere Insignien im Stil der Zeit gaben der nüchternen Stadt eine fast heitere, südliche Atmosphäre. Eine technische Sensation waren Wasserspiele, die von einer fast 1 km langen Leitung vom Neuroßgärter Kirchenberg gespeist wurden.
Im Laufe der Zeit wurden Ergänzungen und Verschönerungen vorgenommen. Dies blieb so bis zum Ende, als das Gelände durch Erbfälle und Verkäufe längst zum „Zschock’schen Stift“ geworden war – ein Name, den die alten Königsberger noch kennen werden. Die Anlage war nun ein Aufenthaltsort für verarmte, unverheiratete Kaufmannstöchter geworden und wurde von der Königsberger Kaufmannschaft unterhalten.
Am 21. Juni 1944 fand hier eine private Abendmusik für die Stiftsfräulein statt; es sollte die letzte Gesellschaft sein. Das herrliche Gartenkunstwerk wurde bei den Luftangriffen Ende August 1944 für immer vernichtet. Eine deutsche Briefmarke erinnerte in den 1960er Jahren in einer Dauerserie daran, die noch bis 2002 gültig war.
Bereits 1805 forderte der Kanzler der Universität eine Handelshochschule in Königsberg. Doch diese Idee sollte sich erst am Ausgang des Jahrhunderts konkretisieren. Eine Denkschrift an den Magistrat der Stadt beschrieb eine solche Schule als „Gebot der Stunde“. Und obwohl die Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Erweiterung des Hafens und der Errichtung des Seekanals bereits finanziell strapaziert war, sah man die Notwendigkeit ein, wenngleich zuerst beschränkt auf Handelshochschulkurse. Sie begannen am 1. April 1907 in extra dafür hergerichteten Räumen des Altstädtischen Rathauses. Die Fächer waren Handelswissenschaft, Rechtslehre, Volkswirtschaft, Wirtschaftsgeographie, Warenkunde und Naturwissenschaften. Hinzu kamen Fremdsprachen, allen voran die russische Sprache.
Mit steigenden Studentenzahlen wurde der Wunsch nach Diplomen und formalen Abschlüssen laut, wie man sie anderswo – z.B. in Berlin und Leipzig – bekam. Die Kurse entwickelten sich zu Vorlesungen, und auch ein größeres Gebäude musste her: Es wurde 1924 die frühere Steindammer Knaben-Mittelschule in der III. Fließstraße / ul. Rokossowskogo im Tragheim. Es war ein Kompromiss, denn es fehlte an geeigneten Räumen für Seminare und größere Vorlesungen.
Dies wurde erreicht, als die Stadt ein Grundstück am Oberteich zur Verfügung stellte. Wir erreichen es, indem wir auf der Schindekopstraße / ul. General-Lejtenanta Oserowa weiter nach Osten gehen, die Samitter Allee / ul. Gorkogo überqueren und der Auguste-Viktoria-Allee / ul. General-Lejtenanta Oserowa folgen. Und durch die Bäume schimmert schon das Ziel der heutigen Wanderung: die neue Handelshochschule von 1930, heute Institut für Ingenieurwesen und Technologie der Baltischen Föderalen Kant-Universität.
Der erste Blick verwirrt die Sinne: In welchem Jahre befinden wir uns? Nichts scheint sich verändert zu haben, und das sei in ein großes Lob an die Stadt Kaliningrad gefasst: In den letzten Jahren wurde die Außenfassade der historischen Farbgebung angepasst, und auch die Anlagen wie Treppe und Fußweg sind authentisch rekonstruiert. Die Schule besteht aus einer Eingangshalle, die als zweigeschossiges Bindeglied in der Mitte des Fotos zu sehen ist. Hier befanden sich im Obergeschoss damals und vermutlich auch heute noch die Verwaltungsräume der Schule. Das nördliche Gebäude mit drei Geschossen ist der Hörsaaltrakt, dem sich (auf dem Foto nicht sichtbar) am Ende ein nach Westen auskragender Lesesaal anschließt. Das südliche Gebäude beherbergt im unteren Geschoss einen Übungsraum. Darüber befindet sich die Aula, die beidseitig von großen Fenstern das Tageslicht hereinläßt. Früher schmückte ein Zitat die südliche Podiumswand der Aula: „Der Mann ist wacker, der sein Pfund benutzend zum Dienst des Vaterlands kehrt seine Kräfte“.
Es ist eine Zeile aus dem Gedicht „Der Gipfel von dem Helikon ist hoch“ des deutschen Dichters Friedrich Rückert (1788-1866). Darunter gruppierten sich Zeichnungen von biblisch anmutenden Personen. Rückert war ein Universalgenie. Er war u.a. in 44 (!) Fremdsprachen „sattelfest“ (darunter selbstverständlich die russische Sprache) und gilt als Begründer der deutschen Orientalistik. Welch eine hohe Messlatte für die damaligen Handelsstudenten! Insgesamt zeigen die streng kubischen Baukörper der Handelshochschule die direkte Verwandtschaft zum Bauhaus in Dessau.
Vor dem Krieg stand vor dem Haus noch eine Skulptur des westpreußischen Bildhauers Helfried Albrecht, Sohn eines Gerichtsrates. Die Skulptur zeigte zwei junge Männer in vorwärtsstrebender Pose. Sie trug den Titel „Aufbruch der Jugend“ und gilt heute als verschollen. Im Innenhof der Schule steht heute ein Passagierflugzeug, davor liegt ein sehr schön gepflegter Sportplatz. Welch eine Fülle an historischen und gegenwärtigen Details bei einem Gebäude. Wir können Bilanz ziehen und kommen zu dem Ergebnis: Wenn eine russisch-deutsche Wandergruppe gemeinsam durch die Stadt geht, ergibt die Rechnung von 1 plus 1 ein Größeres als 2.
Jörn Pekrul