Gebäude ehem. Schindekopstr. 5, 5a, 5b, heute ul.Oserowa. Foto: KE

Königsberger Wanderung

Unser deutscher Autor Jörn Pekrul, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Seine Berichte über die Spuren Königsbergs in der heutigen Stadt, kommen bei unseren Leserinnen und Lesern gut an.  Wir wollen ihn nun auf seiner 26. Wanderung begleiten.

Zum neuen Jahr

Teil 26 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-12/2022

Zum neuen Jahr wollen wir uns einander Gesundheit, Schaffenskraft und auch Stärke wünschen, um in unseren jeweiligen Alltagen und Pflichten zu bestehen. Dazu ein friedvolles neues Jahr, das uns auch weiterhin Gelegenheit geben möge, die Stadt mit ihren vielen interessanten Geschichten zu entdecken.

Mannigfaltige Bräuche gab es in Ostpreußen zum neuen Jahr. Einer davon wurde in Königsberg das „Glückgreifen“ genannt. Aus Wruken (= Steckrüben) wurden Figuren geformt, die in der Silvesternacht unter Teller und Töpfe gelegt wurden. Das konnten Trauring, Schornsteinfeger, ein Kind in der Wiege, ein Hufeisen und vieles mehr sein. Dem Empfänger gaben sie einen Hinweis über Ereignisse im neuen Jahr. Selbstredend durfte in den „Zwölf Heiligen Nächten“ zwischen dem 24.12. und dem 06.01. keine Wäsche gewaschen werden – das gab einen Todesfall – und auch nicht gedroschen, gesponnen oder genäht werden. Der Höhepunkt war aber der Zug des Schimmelreiters mit seiner wilden Schar. Er zog auf den Dörfern in die Bauernhäuser ein. Reiter, Schimmel, Bär und Storch kamen mit lautem Getöse in die Stube; im Gefolge das Pracherweib (dem man tunlichst Lebkuchen, Früchte und Hochprozentiges in den Korb zu legen hatte, wollte man vor einem Tort verschont bleiben), dazu Schornsteinfeger und Ziegenbock. Viele prußische Elemente der Fruchtbarkeit spielen in diesen Brauch mit ein. Sie brachten dem Menschen symbolisch Lebenskraft, nahmen aber auch das mit, was ausgekehrt werden musste. Kinder hatten Respekt vor dem Schimmelreiter, denn wenn sie unartig waren, bekamen sie in der Vorweihnachtszeit oft zu hören: „Passt man off, wenn der Schimmelraiter kömmt, denn ward dat je woll wat absetzen!“

Diese und andere Weihnachtsbräuche hat der Express in seiner Ausgabe Nr. 12/2019 sehr schön und ausführlich beschrieben. So sei heute nur noch eine persönliche Erinnerung angefügt: Der Landmensch in Ostpreußen hatte seit frühesten Zeiten eine Ahnung davon, was die Natur mit den Menschen und den Tieren vorhat. In den langen Nächten um Weihnachten und Neujahr versteht der Mensch die Sprache der Tiere auf dem Hof, und er kann eine Verbindung herstellen. Das war auch bei meinem Vater so. Der heutige Stadtmensch muss seine Antennen dafür wieder schärfen, und man erkennt: Es ist die freiwillige Einfügung in die Gesetze der Natur, die Kraft und Stabilität gibt.

Mit diesen Eindrücken wollen wir unseren Weg fortsetzen und erreichen auf der Schindekopstraße (ul. Generala Oserowa) eine langgezogene Brücke, die „Schindekopstraßen-Brücke“. Sie wurde von 1928-1934 nach einem Entwurf des Magistratsbaurates Walter Proschwitzky gebaut, der auch die Bauleitung innehatte. Die Brücke gibt einen Panoramablick frei auf die Anlagen des Nordbahnhofes. Man sieht: hier hat sich fast nichts verändert. Ein Blick auf die historische Aufnahme zeigt, dass auch vor dem Krieg schon auf Monats-, Wochen- und Nachmittagszeitkarten zu günstigen Preisen z.B. nach Cranz gefahren werden konnte. In der Bahnhofshalle schmückte eine große Landkarte von Ostpreußen die Südwand und zeichnete dabei die Bahnlinien nach. Zigarren und Zeitungen konnten vor Reiseantritt an einem Kiosk erworben werden – beides nützliche Utensilien für einen Tag am Strand. Und heute? Ich kann jedem auswärtigen Besucher eine Fahrt mit der Bahn nach Cranz/Selenogradsk empfehlen. Man bekommt einen Eindruck vom russischen Alltag, sieht die Landschaft zur nahen Küste an sich vorbeiziehen und hat als Ziel einen in den letzten Jahren sehr schön hergerichteten Ort zum Spazierengehen.

Wir bleiben in der Stadt und gehen weiter in östlicher Richtung. Direkt hinter der Brücke zweigt die Belle-Alliance-Straße / ul. Garaschnaja ab. Das Gebäude, das hier noch zu sehen ist, gehörte der Stadtgemeinde Königsberg und wurde – neben einem Frisörsalon – von der Stiftung für gemeinnützigen Wohnungsbau genutzt. Weitere Gebäude verzeichnet diese Straße nicht, denn sie führte – und führt – zwischen einer Grünanlage und den Bahngeleisen direkt weiter zum Hansaplatz/Ploschtschad Pobedy. Von besonderem Interesse ist dagegen das nächste Haus Nr. 18-24, das früher zur Wohnstättengesellschaft mbH gehörte. Wir können hier eine Aufnahme mit „Seltenheitswert“ zeigen, denn die Straße ist frei vom Verkehr (das Foto wurde Sonntag morgens um 05:30 Uhr gemacht). Wir sehen ein Mehrfamilienhaus im expressionistischen Stil der späten 1920er Jahre. An den Hauseingangstüren fallen links und rechts weiße Tafeln auf, die sich beim näheren Hinsehen als entzückende Darstellungen erweisen: Portraits von Einwohnern der Stadt, die alltäglichen Beschäftigungen nachgehen. Da ist eine junge Frau mit einer Blumenvase zu sehen und eine weitere Marjell, die mit einem Sonnenschirm einherschreitet. Kleinere Ornamente wie Blume und Kornähre ergänzen das Portrait, ebenso wie bei dem Landmann ein Füllhorn, das man ihm für eine reiche Ernte wünschen möge, oder dem Fischer, der mit einer Muschel und einem Fisch versinnbildlicht wird. Leben in seinen vielfältigsten Formen, auch abseits der Bahngleise.

Mit dem Beginn des Januar möchte der Autor den russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer kleinen Wandergruppe ein frohes Weihnachtsfest wünschen. Der alte julianische Kalender, der für die russisch-orthodoxe Kirche die Feiertage festlegt, hat für Weihnachten den 7. Januar bestimmt. Es ist der ältere Feiertag, denn die römisch-katholische und die evangelische Kirche folgen dem von Papst Gregor XIII. im Jahre 1582 eingeführten, gregorianischen Kalender. Im Fernsehen immer schön anzusehen sind am Abend vor dem russischen Weihnachtsfest die Lichter-Prozessionen und die Gottesdienste mit viel Gesang. In beiden Kulturen, der russischen  wie der deutschen, erinnern wir uns an das, was uns gemeinsam wichtig ist: das Licht in der Dunkelheit, die Stille der Heiligen Nacht und das Kind in der Krippe, das den Menschen Frieden und Hoffnung brachte. Mögen uns die Weihnachtstage in diesem Sinne stärken und uns durch das neue Jahr führen.               

Jörn Pekrul