„Was ist der Mensch?“ oder: die Zauberspiegel
In dem Haus in Judtschen (heute Wesjolowka bei Tschernjachowsk/Insterburg), wo der junge Philosoph Kant als Hauslehrer tätig war, ist eine neue ihm gewidmete Ausstellung eröffnet worden.
Über Immanuel Kant wird oft gesagt: „Er hat die Heimatstadt nie verlassen“. In Wirklichkeit ist es aber Ostpreußen, das er nie verlassen hat, nicht Königsberg. Es ist bekannt, dass Kant nach dem Tod seines Vaters die Universität nicht abschließen konnte und 1748 „in die Provinz“ ging, um sich dort seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Drei Jahre verbrachte er als Hauslehrer bei Pfarrer Daniel Ernst Andersch im kleinen Ort Judtschen bei Insterburg. Der Pfarrer stellte ihm im Erdgeschoss seines Hauses ein kleines Eckzimmer zur Verfügung. Judtschen besteht heute noch unter dem Namen Wesjolowka, es ist ein kleines Dorf im Landkreis Tschernjachowsk.
In der Sowjetzeit wohnten mehrere Familien im Haus, bis nur noch eine ältere Frau mit Namen Raja übrigblieb. Sie führte ihren Haushalt und hielt Schafe und Gänse, die Wand an Wand mit ihr in Zimmern untergebracht waren, die sie als Ställe und für Brennholzvorräte hergerichtet hatte. Als Raja alt und pflegebedürftig wurde, nahm ihre Enkelin sie zu sich nach Tschernjachowsk. Das Haus in Wesjolowka stand leer und verfiel. Doch selbst das halb verfallene Gebäude wurde ab und an noch von Touristen aus Deutschland besucht.
2014 schlugen die regionalen Medien zum ersten Mal Alarm: Das Haus, in dem der große Philosoph Immanuel Kant etliche Jahre verlebt hat, drohe einzustürzen. Tatsächlich bot es zu dem Zeitpunkt einen traurigen Anblick: Fenster und Türen fehlten, die Dachbalken waren durchgefault, die Mauern wiesen Löcher auf, im Inneren Müll, alte Möbel und zerschlagene Öfen. Dass die Steine des Hauses damals nicht nacheinander verschwanden, kann man ein Wunder nennen. Möglicherweise haben Publikationen in der Ortspresse dabei eine Rolle gespielt.
Und das Wunder geschah: Die Behörden verliehen dem gottvergessenen Gebäude den Rang eines kulturhistorischen Denkmals und begannen nach einem Investor zu suchen.
Dennoch vergingen Jahre, bis endlich Geld vorhanden war und mit der Sanierung des Hauses begonnen wurde. Im Sommer 2018 war diese abgeschlossen und das Haus wurde Außenstelle des Kaliningrader Museums für Kunst und Geschichte. Es wurden Bücher nach Wesjolowka gebracht, einige altertümliche Gegenstände, das Portrait des Philosophen erhielt einen Platz an der Wand. Doch danach konnte das Museum den neuen Sprößling entweder nicht ausreichend finanzieren oder die Außenstelle war zu kärglich mit Exponaten ausgestattet – auf jeden Fall wurde beschlossen, das Haus in Wesjolowka dem Königsberger Dom zu übereignen. Damit begann im Leben des Gebäudes ein ganz neues Kapitel.
Tatsache ist, dass man nun wirklich sagen kann, dass es in Wesjolowka ein vollwertiges Museum mit eindrucksvollen und hochinteressanten Ausstellungsstücken gibt. Dabei verfolgte der neue Eigentümer gar nicht das Ziel, das Erscheinungsbild eines Hauses aus dem 18. Jahrhundert nachzubilden. Das mag daran liegen, dass das Haus des Pfarrers Andersch schon damals durch einen Brand stark beschädigt und im 19. Jahrhundert vollständig abgerissen worden war. Doch genau an seiner Stelle baute man ein anderes, dem ursprünglichen Gebäude jedoch sehr ähnliches Haus, um das es hier nun geht.
Man beschloss, in eben diesem Haus einen stilisierten historischen Raum entstehen zu lassen – etwa ein geräumiges Wohnzimmer mit einem großen Esstisch und dem für das 18. Jh. typischen Geschirr sowie eine Küche mit einem virtuell ständig brennenden Herdfeuer, über das sich ein Küchenmädchen beugt.
Die Ausstellung ist als Rundgang gestaltet, sodass die Besucher von einem ins andere Zimmer gehen. In diesen präsentieren sich antike Möbel, Porzellan- und Zinngeschirr, Tafelbestecke, Uhren und Landkarten aus dem 18. Jh. Die künstlerische Gestaltung der Ausstellung übernahm der litauische Innenarchitekt Saulius Valius. Von ihm stammt die Idee, an den Wänden des Raumes Bildschirme anzubringen, die wie Zauberspiegel gestaltet sind und von Zeit zu Zeit Kants Person erkennen lassen, auf den Boden werden Zitate aus seinen Werken projiziert, darunter auch „Was ist der Mensch?“ – eine Frage, die Kant sein Leben lang tief bewegt hat.
Sehr eindrucksvoll ist das Arbeitszimmer von Pfarrer Andersch. Es enthält ein Kirchengestühl und Johann Sebastian Bachs Orgelmusik erfüllt den Raum, wobei an die Zimmerwände 70 Fresken projiziert werden, die früher die Kirchen und Dome Ostpreußens schmückten. Von Interesse ist auch eine großformatige Bibel aus dem 18. Jahrhundert. So gehen Zeugnisse vergangener Zeiten eine Verbindung mit moderner Technik ein.
Auf das Arbeitszimmer des Pfarrers folgt ein „Unterrichtsraum“, der die Fächer zeigt, in denen Kant die Kinder des Pfarrers unterrichtete. Der Pfarrer hatte fünf Söhne, von denen drei Kants Schüler waren. Kant beschränkte sich nicht nur auf die Lehrtätigkeit, sondern er nahm Anteil am Leben der Landgemeinde, war Taufpate mehrerer Kinder, wovon Eintragungen im Kirchenbuch zeugen. Es war in Judtschen, wo Kant mit der Arbeit an seinen ersten philosophischen Werken begann. Deshalb kann man sagen, dass er sich hier zu einem echten Forscher und Gelehrten heranbildete.
Man beabsichtigt, im Dachboden des Pfarrhauses zwischen den Balken Arbeitszimmer für Mitarbeiter des Museums und einen weiteren Ausstellungsbereich einzurichten. Der steinerne Keller soll ebenfalls für museale Zwecke erschlossen werden: Es ist geplant, darin eine Ausstellung über die Besiedelung des Landes in verschiedenen Epochen zu eröffnen – von der Zeit des Deutschen Ordens bis zur Gegenwart.
Es ist wichtig zu bemerken, dass das Projekt „Kantmuseum in Wesjolowka“ im Rahmen eines Programms für die internationale Zusammenarbeit in Grenzregionen umgesetzt wurde. Diese und andere ausländische Finanzierungen wurden nach Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine in der ersten Hälfte des Jahres 2022 gestoppt. Die Arbeiten an der Ausstellung wurden mithilfe eigener Mittel abgeschlossen.
Es gibt noch ein weiteres mit Fördermitteln ausgestattetes Projekt – neben dem Haus des Pfarrers soll eine so genannte Künstlerresidenz mit Wohneinheiten sowie Unterrichtsräumen und Ateliers entstehen. Schriftsteller, Komponisten, Künstler und Philosophen können dieses künstlerische Areal besuchen und hier Seminare und Plenen abhalten, Erfahrungen austauschen und freundschaftliche Beziehungen pflegen. Von diesem Plan hat sich der Dom trotz allem nicht verabschiedet und ist bereit, ihn sogar aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Bis Mitte 2023 hofft man, diese Aufgabe bewältigen zu können.
Alexander Kateruscha