Königsberger Wanderung
Unser deutscher Autor Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner dreiundzwanzigsten Wanderung begleiten.
Drei Häuser
Teil 23 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-9/2022
Nach den vielen Sehenswürdigkeiten auf dem Hansaplatz (Ploschtschad Pobedy) sei nun die Ausfallstraße nach Norden angesteuert, die sich unmittelbar an unsere letzte Station anschließt. Es handelt sich um die Fuchsberger Chaussee, die nach 1927 in Stresemannstraße, nach 1933 in General-Litzmann-Straße und nach 1945 in die heute noch gültige Bezeichnung Sowjetsky Prospekt umbenannt wurde. Der erste Eindruck einer alltäglichen Verkehrsroute täuscht, denn auch hier warten Entdeckungen und Erlebnisse.
Beginnen wir mit dem Haus, das sich gleich auf der westlichen Seite der Straße zeigt: roter Backstein, die Form eines Kubus, und zwischen den Fensterreihen auffällig hervortretende Pfeiler. Vor dem Krieg befand sich zur Straßenseite noch ein Relief des 1919 abgestürzten Segelfliegers Ferdinand Schulz, das von Walter Rosenberg geschaffen wurde (der Künstler, der auch das Relief von Hermann Claaß im Tiergarten schuf, siehe KE 04/2022). Der Stil des Hauses lässt auf die 1920er Jahre schließen. Es handelt sich um das Verwaltungsgebäude der Ostpreußenwerk AG; eine Gesellschaft, die 1920 gegründet wurde.
Ostpreußen war damals vom Rest des Landes abgeschnitten, und das erforderte eine selbstständige Versorgung mit Strom. Hierfür wurde die Alle bei Friedland und Groß-Wohnsdorf gestaut (in Friedland entstand der Reihersee mit einer Länge von 30 km) zum Betrieb von neu errichteten Wasserkraftwerken. Von dort wurden Leitungen und Schaltstellen über die ganze Provinz gezogen. Weiterhin wurde in Elbing ein Dampfkraftwerk und in Gumbinnen ein Dieselkraftwerk gebaut. 1937 konnten durch diese Maßnahmen bereits 290 Mio. kWh Strom erzeugt werden – ein Großunternehmen, das von diesem Gebäude aus geführt wurde. In dem Gebäude hatten neben der Ostpreußenwerk AG auch weitere Mieter aus der Elektrobranche einzelne Räume belegt. Insofern können wir sagen: von hier aus wurde Ostpreußen mit Strom versorgt.
Bei Gelegenheit der Erwähnung des Wasserkraftwerkes in Friedland sei auch an die Königsberger Künstlerin Hilde Leest (1903-1970) erinnert. Nach einer Ausbildung zur Keramikerin im schlesischen Bunzlau und einem Studium bei dem großen Hermann Brachert, entwickelte sie sich zur Bildhauerin und schuf u.a. ein Modell des vorgenannten Wasserkraftwerkes. In späteren Jahren machte sie sich mit Plastiken einen bis heute in der Kunstwelt ehrenvollen Namen. Das Gebäude der Ostpreußenwerk AG wird heute von staatlichen Institutionen genutzt.
Nur ein paar Schritte weiter, zwischen Schubertstraße und Beethovenstraße (ul. Tschaikowskogo und ul. Kirowa) – hier sei der nahen Ostpreußischen Mädchengewerbeschule noch ein Gruß zugewinkt (KE 11.2020) – befindet sich der nächste Blickfang. Die ehem. Stresemannstr. Nr. 19 zeichnet sich heute durch ein nüchternes Erdgeschoss und einen klassizistischen Überbau mit barocken Ornamenten unterhalb des Daches aus. Es handelt sich um ein Wohn- und Geschäftshaus, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Königsberg gebaut wurden. In diesem Straßenzug befand sich auch ein kleines Kino, die „Hufen-Lichtspiele“. Die beiden Läden im Parterre wurden von einem Schuhmachermeister und einer Papier- und Kurzwarenhandlung genutzt. Heute bieten zwei Optiker ihre Dienstleistungen an, und eine Vertretung der russischen Pensionäre hat hier ihr Büro.
Das unmittelbar darauffolgende Gebäude wirkt mächtig. Es wurde 1937 nach Entwürfen der Architekten Siegfried Saßnick und Helmut Flotow für die Haupthandelsgesellschaft ostpreußischer landwirtschaftlicher Genossenschaften mbH in Ostpreußen gebaut. Und hier begegnen wir Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888), ein Sozialreformer und Kommunalbeamter, der die nach ihm benannte Organisation schuf. Seine Mutter (der Vater erkrankte früh und fiel als Ernährer aus) versorgte die Familie und prägte den Jungen mit der Kraft eines Glaubens an Gott, der als entscheidend für die spätere Frömmigkeit des Sohnes gesehen werden kann. Dem sozialen Gedanken verpflichtet, regte er die Bauern zu Zusammenschlüssen an, in denen einfacher an Kreditmittel und größere Investitionen zu kommen war.
Raiffeisen war ein Denker und ein tiefgläubiger evangelischer Christ. Das Symbol der Raiffeisenbanken – zwei gekreuzte Pferdeköpfe – findet sich auch heute noch, sogar in Kaliningrad. Das Raiffeisenhaus – so der ehem. Name dieses Gebäudes – besteht aus 4 Geschossen sowie Aktenräumen unter dem Dach. Das Gebäude wurde in Stahlbetonweise mit Stützen und Unterzügen errichtet, so dass die Räume variabel aufgeteilt werden konnten. Im Erdgeschoss befand sich die Kassenhalle. Über dem Eingang stand vor dem Krieg eine von Franz Andreas Threyne geschaffene, 3,20 Meter hohe Allegorie aus Bronze mit dem Titel: „Aussaat und Ernte“. Das Foyer enthielt Glasmalereien mit ostpreußischen Motiven und ein Relief von F.W. Raiffeisen, geschaffen von Georg Fuhg.
Diese Kunstwerke sind nicht mehr erhalten. Doch ein freundlicher Wächter gestattete mir einen Blick in das Treppenhaus. Es ist unverändert geblieben und verströmt noch heute die Atmosphäre eines Bürohauses aus den 1930er Jahren im Stil der späten Neuen Sachlichkeit. Begegnungen, Menschen, Wirkung von Geschichte und Kultur und Kunstwerken – das macht selbst eine alltägliche Straße in Kaliningrad zu einer Entdeckungsreise. Draußen fährt die Straßenbahn entlang, und wir wollen es als Aufforderung nehmen, noch mehr über diese Straße zu erfahren.
Jörn Pekrul