Königsberger Wanderung
Unser deutscher Autor Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner zweiundzwanzigsten Wanderung, Teil 2, weiter begleiten.
EIN SOMMERAUSFLUG
Teil 22-2 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-8/2022
Zum Abschluss des Hansaplatzes (Ploschad Pobedy) bleiben noch zwei Gebäude übrig, die wir heute würdigen wollen. Es ist zuerst ein Gebäude im Stil der Neorenaissance. Wir begegneten ihm schon kurz zu Beginn unserer Wanderung (KE 11/2020) und wollen heute seine Geschichte hören. Es handelt sich um das Polizeipräsidium von Königsberg. Die drei Königsberger Teilstädte bekamen bereits 1639 unter dem Kurfürsten Georg Wilhelm eine Art „Fremdenpolizei“. Sie ging 1724 mit der Zusammenlegung von Altstadt, Kneiphof und Löbenicht in die Zuständigkeit der königlichen Behörden über. Die Chroniken berichten von einer großen Unruhe im Jahre 1831. Das Polizeipräsidium residierte damals in der Hökerstraße 31 (am Altstädtischen Markt).
Bei einer Cholera-Epidemie entwickelten die verängstigten Menschen angesichts so noch nicht bekannter, rigoros durchgeführter Kontakt- und Verkehrssperren falsche Verdächtigungen und absurde Gründe. Am 28. Juli 1831 kam es zu einem Tumult von Jugendlichen. Sie zogen zum Schloss, wurden dort abgedrängt und verwüsteten das nahe Polizeipräsidium. Durch den Einsatz von Infanterie, aber auch von beherzten Studenten der Albertina wurde schließlich die öffentliche Ruhe und Ordnung wiederhergestellt. Das Polizeipräsidium bezog später ein altes Adelspalais in der Junkerstraße Nr. 8 (das vorher der Schimmelpfeng’schen Tabakfabrik gehört hatte).
1914 folgte dann ein erneuter Umzug an diese Stelle. Das Steindammer Tor war abgetragen worden (KE 07/2022) und auf der Fuchsberger Allee, wie sie damals hieß, entstand das erste öffentliche Gebäude „draußen vor der Stadt“. Die kleine Händelstraße trennte das Grundstück von der Hufenallee, und man sieht auch heute noch, dass die Architektur damals an den Straßenverlauf angepasst wurde. Früher verfügte das Polizeipräsidium noch über zwei Türmchen an der Südseite und einen Reiter auf dem Dach. Insgesamt ist das Gebäude aber gut erhalten und wird auch heute behördlich genutzt. Die „Fuchsberger Allee“ wurde 1929 in „Stresemannstraße“ umbenannt, heute heißt sie „Sowetskij Prospekt“.
Ebenfalls im Jahr 1929 wurden, direkt gegenüber, zwei kleine Bahnhöfe abgebrochen: der „Cranzer Bahnhof“ (der 1885 für die damals neue Bahnverbindung nach Cranz entstanden war) und der westlich davon gelegene „Samland-Bahnhof“, der seit 1901 die Züge nach Neukuhren und Warnicken abfertigte. Stattdessen entstand der große „Nordbahnhof“, der weiterhin auch die Strecken nach Tilsit und Labiau aufnahm. Im westlichen Teil gab es dazu ein Hospiz und ein Restaurant.
Die Zugabfertigungen waren immer noch überschaubar, und so wurde ihnen der massive Neubau von 1930 des Architekten Martin Stallmann und des Magistratsbaurats Schäff nicht ganz gerecht. Architektonisch schließt das Gebäude zwar den damals neu gestalteten Hansaplatz vortrefflich nach Nordosten ab. Doch die vier Geschosse sowie die durchgängigen Pfeiler irritieren: sie sind der „Neuen Sachlichkeit“ zuzuordnen, nehmen aber gleichzeitig den monumentalen Stil der 1930er Jahre vorweg.
Die Königsberger schien das damals nicht zu stören. Unzählig die Erinnerungen, wenn man an freien Tagen oder auch nur nach Feierabend noch die 28 km bis zur See nach Cranz fuhr. Das Wasser, der Strand, die Dünen – hier waren Lärm und Hektik der großen Stadt vergessen und der Rand der Welt, an dem die Ferne anfing, war erreicht.
Auf dem Corso und unter den Weidenbäumen saßen wie seit allen Zeiten die Fischerfrauen mit ihren Flunderkörben. Vom Wasser aus sichtbar das Band der weißen Häuser am Küstenbogen, der sich vom Herren- bis zum Damenbad hinzog und der durch einen Bohlenweg, den man die Promenade nannte, verbunden war. Es waren schöne Tage, und die „Königsberger Allgemeine Zeitung“ dichtete damals über die Rückfahrt nach Königsberg: „Wenn die Sonn’ im Meer versinkt, man den letzten Schoppen trinkt / Fährt nach Haus (mit Missvergnügen), wieder man in vollen Zügen / Müde bist fohrts wie ein Bär, aber Sitzplatz gibts nicht mehr / Kommst am Nordbahnhof Du an, kriegst grad noch ne Straßenbahn / Rotgebrannt kommst dann nach Haus, krauchst ins Bett und streckst Dich aus / Freust Dich wie ein Wichtelzwerg, bist zu Haus in Königsberg“.
Die Leichtigkeit, sie sollte nicht andauern. Heute erinnert am Nordbahnhof eine Gedenktafel der „Königsberger und Kaliningrader Bürger“ vom 24. Juni 2011 in russischer und deutscher Schrift daran, dass von hier aus am 24. Juni 1942 die erste Deportation jüdischer Bürger von Königsberg erfolgte. 465 Frauen, Kinder und Männer wurden in das Vernichtungslager von Malyi Trostenez bei Minsk verschleppt. Bereits am 10. November 1938 waren im Polizeipräsidium gegenüber 450 jüdische Männer verhaftet und festgehalten worden – eine Drohung und Einschüchterung.
Ein weiteres Erinnerungsstück befindet sich auf den Gleisen. Es handelt sich um eine als Kriegsbeute erstandene Lok der deutschen Baureihe 52. Diese Loks waren speziell für den Kriegseinsatz konstruiert: technisch so einfach wie möglich und zum Einsatz unter schwierigen Witterungsverhältnissen. In der Sowjetunion wurde sie als TE Nr. 858 geführt; sie erinnert auch an die russische Lok-Serie E, die im zaristischen Russland und später in der Sowjetunion gebaut wurde.
Nach dem Krieg fuhren ab 1964 wieder Züge an die Küste, und der Nordbahnhof wurde zu einem Seemannsheim. Heute hat das Gebäude verschiedene Nutzungen, doch geblieben ist wie früher der Drang zur See, die Notwendigkeit des einfachen, arbeitenden Menschen nach Erholung und nach Ruhe. Für beides bot Cranz früher und bietet Selenogradsk heute eine zuverlässige Gewähr.
Jörn Pekrul