Walross verirrt in der Ostsee
Ein riesiges, durch die schneeweißen Stoßzähne auffallendes Walross wurde von einem Mitarbeiter des regionalen Nationalparks an der Küste der Kurischen Nehrung gesichtet.
„Mein erster Gedanke war, es ist eine Kegelrobbe“, erzählte Grigorij Batschinski. „Wieso ist sie aber so groß? Als ich näher herankam, sah ich die Stoßzähne. Was für eine Überraschung! Das Walross lag ganz ruhig und machte keine großen Bewegungen, es kratzte sich nur ein wenig. Ich konnte es atmen hören. Ich gab mir die größte Mühe, das Walross nicht zu erschrecken und es ließ mich nah an sich heran.“
Batschinski machte ein Video und schickte es an das Institut für Ozeanologie in Kaliningrad. Von dort wurde es an den Moskauer Zoo weitergeleitet, der über Erfahrungen im Umgang mit Walrossen verfügt. Hier die Ansicht der Experten:
„Der sehr große und nach den Stoßzähnen zu urteilen erwachsene Meeressäuger sieht geschwächt aus. Wie kommt ein solches Tier an die Kaliningrader Ostseeküste? Walrosse sind in der Laptewsee, der Ostsibirischen See, dem Beringmeer, der Tschuktschensee und der Karasee verbreitet. Hier hat es sie nie gegeben. Walrosse ernähren sich hauptsächlich von Muscheln und anderen auf dem Meeresgrund lebenden wirbellosen Tieren, die sie mithilfe der Stoßzähne aufspüren. Es kommt auch vor, dass sie Fische fressen. In der Ostsee gibt es für sie so gut wie keine passende Nahrung. Zwar gibt es hier Miesmuscheln, aber kleine und relativ wenige. Das Walross muss hier wirklich Hunger gelitten haben.
Am 16. Juni wurde ein Walross vor der deutschen Küste, am 23. Juni vor der polnischen Küste gesehen. Bei dem an die Kurische Nehrung geschwommenen Tier handelt es sich wahrscheinlich um genau dieses Tier. Wenn man davon ausgeht, dass es sich um ein Atlantisches Walross aus den Gewässern vor Grönland handelt, könnte es über die dänischen Meerengen in die Ostsee gelangt sein. Kein Zufall also, dass man es zum ersten Mal auf der Insel Rügen gesichtet hat.
Es ist höchstwahrscheinlich ein Weibchen und kein junges mehr. Es ist sehr abgezehrt und hat wahrscheinlich gesundheitliche Probleme.“
Das Walrossweibchen blieb den ganzen Tag am Strand liegen und wälzte sich nur manchmal von einer Seite auf die andere. Da es sehr heiß war, rieten die Fachleute, als Sonnenschutz eine Plane zu spannen und das Walross mittels eines Schlauchs zu tränken. Außerdem sollte es mit gepulten Garnelen und Tintenfischen gefüttert werden. Man richtete dazu unweit des Walrosses eine Art Futterstelle ein.
Doch all diese Bemühungen waren umsonst. Das Walross machte von der Plane keinen Gebrauch. Zwar ließ es zu, dass man es mit dem Schlauch abspritzte, fressen tat es jedoch nicht. Und das, obwohl ihm freiwillige Helfer aus Kaliningrad Muscheln und Fische mitgebracht hatten.
In der Nacht regnete es, donnerte und blitzte. Möglicherweise verscheuchte dies das Tier oder es hatte Kraft gewonnen und wollte weiterschwimmen – auf jeden Fall war das Walrossweibchen am nächsten Morgen nicht mehr da. Bereits am 3. Juli sah man sie vor der lettischen Stadt Liepaja. Da sie ihre Reise fortsetzte, muss es also um ihre Gesundheit nicht so schlimm bestellt gewesen sein, wie die Experten vermutet hatten. Wo wird man sie wohl das nächste Mal sehen? In Estland oder in Finnland? Oder vielleicht in St. Petersburg? Oder wird sie an Deutschland vorbei zurück in ihre heimatlichen Gewässer schwimmen?
Alexander Kateruscha
Bereits nach Redaktionsschluss schrieb die Leiterin des Kaliningrader Tierparks Swetlana Sokolowa in ihrem Telegram-Kanal: „Unser Walrossweibchen ist vor dem finnischen Hamina (kleine Stadt am Finnischen Meerbusen – Anm. des KE) gesichtet worden. Sie schwimmt schnurstracks nach Norden. Dort gibt es aber keine Verbindung zu ihrer heimatlichen Barentssee… Wie kommt sie nun zurück in ihre Gewässer? Hoffentlich schafft sie es!“ Doch nur wenige Stunden später kam die Nachricht, dass das Walrossweibchen während des Transports in den Zoo von Helsinki verendet ist. Leider ging die lange Reise über ihre Kräfte.