Das ehemalige Landesfinanzamt, heute das Gebäude der Gebietsverwaltung. Foto: gov39.ru

Der Blick  für’s Detail

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner einundzwanzigsten Wanderung begleiten.

Teil 21  der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-6/2022

Das frühere Preußische Staatsarchiv wird heute als Bibliothek für das Gebiet Kaliningrad genutzt. Am Eingang befindet sich ein Vorplatz, der zu einer Rast geradezu einlädt: ein Springbrunnen, schattenspendende Bäume und gepflegte Blumenrabatte geben Gelegenheit, die bisherigen Eindrücke auf sich wirken zu lassen.

Im Süden kündigt sich die nächste Sehenswürdigkeit an, und dazu gehen wir in die Alte Pillauer Landstraße (ul. Dmitrija Donskogo). Ein interessantes Gebäude von 1928 steht vor uns. Wir stehen vor dem früheren Landesfinanzamt. Es nimmt den Schwung der Straße auf, zeigt eine symmetrische Gliederung und an den Seiten zwei Dachgiebel, die aus dem Klassizismus kommen. Die mittlere Fensterfront ist einheitlich und ruhig; sie wird jedoch eingefasst durch ebendiese vorspringenden Seiten, auch Risalite genannt. Die spitzen Pfeiler waren damals für Königsberg etwas Neues, und sie werden hier durch einen kubischen Bauteil unterhalb des Giebels abgeschlossen. Dieser Kubus verzeichnet Rundfenster und ein Blick ins Detail stellt eine äußerst spannende Aufteilung vor: Fensterbänder, an denen Halbrundfenster zwischen den Pfeilern angebracht sind. Die spitzen Pfeiler finden eine Entsprechung in den Dachgauben. Die Bürofenster haben im nördlichen Teil noch die ursprünglichen Sprossen, womit man damals eine wuchtige Architektur optisch auflockerte (ähnlich wie z.B. bei der Burgschule). Insgesamt ein aufregender Bau, der einerseits die traditionellen Formen aufnahm, andererseits aber die Suche nach neuen Ausdrucksformen erkennen lässt.

Der Architekt Friedrich Lahrs (1880-1964) war einer der bekanntesten Königsberger Baumeister seiner Zeit. Er schuf auch die Kunsthalle am Wrangelturm (1913) und als bekanntestes Werk die Stoa Kantiana am Dom (1923). Er legte sein Abitur am Löbenicht’schen Realgymnasium ab und absolvierte 1898 die Technische Hochschule in Berlin-Charlottenburg. 1906 erhielt er den Schinkelpreis, mit dem der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin kreative und talentierte Nachwuchskräfte für hervorragende Leistungen im Bauwesen auszeichnet, übrigens bis heute. Friedrich Lahrs überlebte das Ende Königsbergs und veröffentlichte 1957 ein hochgelobtes Buch über die Baugeschichte des Königsberger Schlosses. Er starb 1964 in Stuttgart. Das Landesfinanzamt wurde bei Kriegsende als Lazarett genutzt, in dem auch zeitweise Hans Graf von Lehndorff tätig war, der die Zeit in seinem „Ostpreußischen Tagebuch“ anschaulich beschreibt. Heute wird das Gebäude von der Gebietsverwaltung genutzt.

Gepflegte Außenanlagen ergänzen den Park auf dem Hansaring (Pr. Mira). An der Nordseite gehen wir in die Kniprodestraße (ul. Teatralnaja), wo vor dem Krieg noch eine kleine Kirche der Baptisten stand, die heute nicht mehr existiert. Eine Brücke über die Bahngleise gibt einen ersten Blick auf den Nordbahnhof frei und schon kommt das nächste Gebäude ins Blickfeld. Es ist das frühere Postscheckamt von 1926, welches – wie das Landesfinanzamt – damals einen für Königsberg völlig neuen Baustil darstellte.

Wir sehen ein Gebäude, dessen beiderseitige Flügel durch eine leichte Rundung verbunden sind. Die Ecken sind massiv und diese Monumentalität wird durch die mächtigen Pilaster, die Wandpfeiler zwischen den Fenstern im Rundteil, verstärkt. Als einziger Schmuck fallen lediglich einige Rosetten oberhalb der dritten Fensterreihe auf. Das Gebäude ist ästhetisch und von den Proportionen her sehr durchdacht und kündigte damals die monumentale Architektur an, die in den 1930er Jahren in Europa prägend wurde. Eine kleine Entdeckung kann aber derjenige machen, der den Blick für das Detail bewahrt. Am Eingang sind heute noch zwei Putten mit einem Posthorn zu bewundern.

Übrigens befinden wir uns hier auf einer historisch interessanten Stelle. Als 1842 eine Kabinettsorder den Bau repräsentativer Stadttore verfügte, entstand hier das Steindammer Tor. Wie die übrigen Stadttore in Königsberg, nahm die Architektur auch hier Einflüsse aus der Ordensgotik wie auch aus dem englischen Tudor-Stil mit rotem und gelbem Backstein auf. Das Steindammer Tor war vergleichbar mit dem heute noch existierenden Brandenburger Tor in der Vorstadt. Hier wie dort liefen zwei Durchfahrten und zwei Fußgängertore unter Spitzbögen hindurch. An den Seiten gab es einen Säulengang, und das Dach wurde von Zinnen und vier Türmen abgeschlossen. Auf der Stadtseite schaute Friedrich Wilhelm IV auf die Stadt. Doch wo genau schaute er hin? Ein Blick auf eine alte Karte gibt die Antwort: der „Romantiker auf dem Thron“ schaute auf den Trommelplatz (heute der Platz an der ul. Generala Galitskogo). Das Tor wurde 1912 wegen des wachsenden Verkehrs abgerissen, und die Skulptur des Königs kam ins Festungsmuseum. Würde er heute noch hier stehen, fände er sich in einer recht merkantilen Umgebung wieder: ein großes Einkaufszentrum mit Boutiquen lockt die Besucher an. Ansprechend gestaltete Außenanlagen laden zum Verweilen ein, und das ist wirklich schön: man wird nicht belästigt, kann den freien Tag genießen und schaut dem quirligen Leben auf dem Steindamm (Leninskij Prospekt) zu. Und ein Detailblick verführt zu einer kleinen Sünde: in einem nahegelegenen Cafй sind Trüffel aus Kaliningrader Herstellung im Angebot, auf die man aufgrund einer ansprechenden Verpackung mit Königsberger Motiven aufmerksam wird. Eine freundliche Verkäuferin gestattet ein Schmeckpröbchen, und schon ist die Köstlichkeit erworben und wird sogleich ihrer Bestimmung zugeführt. Die Trüffel sind das Schuldgefühl wert und wir dürfen doppelt beruhigt sein: unsere Wanderung geht weiter und ertüchtigt das körperliche wie das geistige Wohlbefinden. 

Jörn Pekrul