„Schönheit können wir entbehren. Uns geht es ums Überleben“
Alexander Kateruscha, Korrespondent der auflagenstärksten russischen Tageszeitung „Komsmolskaja Prawda“, hat den Ort Jasnoje Jasnoje im Osten des Kaliningrader Gebietes besucht. Seine Eindrücke und Gedanken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Ortes teilt er auch mit den Leserinnen und Lesern des „Königsberger Express“.
Man fährt etwa zwei Stunden mit dem Auto von Kaliningrad bis Jasnoje (ehem. Kaukehmen). Der Ort befindet sich bei Slawsk/Heinrichswalde und wird wegen seiner zahlreichen verfallenen und trotzdem eindrucksvollen Bauten eine „Geistersiedlung“ genannt. An einigen Fassaden sind noch deutsche Buchstaben zu sehen, die Balkone und Stuckverzierungen lassen ahnen, wie schön sie einst waren. Die Straßen sind mit Kopfsteinen gepflastert, man kann die Umrisse eines alten Marktplatzes erkennen, die Kirche ist habzerstört, aber sie steht noch. Der Ort wirkt zwar vernachlässigt, stellt jedoch eine Touristenattraktion dar: Man fühlt sich ins alte Ostpreußen zurückversetzt.
Neulich zeigte sich für den Ort ein Hoffnungsschimmer: Auf Gebietsebene wurde beschlossen, mehrere aus der Vorkriegszeit stammende Häuser zu sanieren und zu verschönern – so wie man das schon in Schelesnodoroschny/Gerdauen getan hat. Werden diese Pläne Wirklichkeit, kann sich danach der Ort wieder sehen lassen – wie wir das heute aus alten Postkarten kennen.
„Haus auf der Abrissliste“
Im Zentrum von Jasnoje steht ein Lenin-Denkmal, ein Relikt und Zeuge der Sowjetzeit. Von ihm aus gehen Straßen in verschiedene Richtungen ab. Ich entscheide mich für eine mit Kopfsteinen gepflasterte Straße und stehe bald vor einem halbzerstörten dreistöckigen Haus, das jedoch immer noch bewohnt wird. Ein paar kaum lesbare Zahlen an der Fassade der Halbruine lassen auf das Baujahr – 1914 – schließen. Lediglich zwei Wohnungen im Haus werden bewohnt, die Einwohner haben vom Sanierungsplan keine Ahnung.
„Ich habe nie etwas davon gehört. Das bringt aber sowieso nichts, das Haus steht ja auf der Abrissliste“, äußert sich dazu eine Einwohnerin mit dem Namen Emilia.
„Wieso Abrissliste? Ihr Haus ist ja eines der schönsten im Ort“, staune ich.
„Schönheit können wir getrost entbehren. Uns geht`s ums Überleben – dass uns keine einstürzende Decke erschlägt und in die Wohnung kein Regenwasser durch ein Loch im Dach fließt. Wir haben das Loch notdürftig mit einem Blech dichtgemacht, es tauchen aber immer neue Leckstellen auf. Die Ortsverwaltung beruft sich auf Geldmangel und sagt, wir sollen das Dach auf eigene Kosten reparieren. Ich allein kann so viel Geld nicht aufbringen. Mag mir das Wasser also bis zu den Knien stehen!“
Vor dem Eingang in Emilias Wohnung bellt ein kleiner Hund – er bewacht hier einen Stapel Holzscheite. Erdgas ist in Jasnoje ein Fremdwort, man heizt hier nur mit Holz oder Kohle.
„Wir sind Übersiedler aus Litauen, kamen zunächst in Slawsk an, wohnten dort eine Zeit lang, ließen uns dann aber in Jasnoje nieder. Meine Eltern sind gestorben und ich wohne allein hier“, sagt Emilia und mümmelt sich fröstelnd in eine abgewetzte Winterjacke ein. „Ich habe mein Leben lang als Melkerin in der Sowchose geschuftet und bin jetzt Rentnerin. Mit meinen 11.000 Rubeln im Monat (ca. 120 Euro) komme ich kaum über die Runden. Für eine Lieferung Brennholz muss ich 12.000 Rubel bezahlen und ich brauche mindestens zwei davon, um zu überwintern. Ich muss deshalb sparen, etwas auf die hohe Kante legen. Ich wage mich kaum aus dem Dorf, fahre nur gelegentlich zu meiner Tochter nach Sowjetsk, um dort ein Bad zu nehmen und mich ein bisschen zu entspannen.“
„Wer geht, der kommt nie wieder zurück“
Fast alle Wohnäuser in dieser Straße sind ungepflegt und verfallen. Ein einziges Haus, das vor ungefähr einem Jahr eine Renovierung erfahren hatte, befindet sich in der Hauptstraße. Die Eingangstür an der Frontseite des Hauses erweist sich als Attrappe, man kommt vom Hof aus ins Innere des Hauses. Dieses wird von drei Familien bewohnt.
„Wir wohnen genau im Zentrum von Jasnoje. Das Haus fällt ja jedem, der vorbeikommt, auf. Das ist der Grund, warum man es einigermaßen in Ordnung gebracht hat. Manchmal fährt ein Touristenbus vorbei“, erzählt mir die freundliche Tatjana, die eine Wohnung im Erdgeschoss bewohnt. Sie wohne seit 40 Jahren hier, sei in der Kommunalwirtschaft tätig gewesen und über die Probleme des Ortes bestens unterrichtet.
„Es gab hier eine größere Firma, die sich mit der Bodenentwässerung beschäftigte. Sie wurde in den 1990er Jahren geschlossen, die Sowchose wurde aufgelöst, die Kuhställe mit gekühlten Milchtanks hörten auf zu bestehen. Krankenhaus, Apotheken, Läden usw. – alles passte irgendwie nicht in die neue Zeit. Der Ort hatte keine Zukunftsaussicht mehr. Wer konnte, zog nach Kaliningrad oder Sowjetsk um, versuchte dort Arbeit und Unterkunft zu finden. Häuser, die sie in Jasnoje bewohnt hatten, standen leer und verfielen. Es macht keinen Sinn, sie zu sanieren, weil keiner ihrer früheren Bewohner je zurückkehren wird.“
„Die Rente reicht mir, um Milch und Brot zu kaufen“
Es gibt im Ort einige hochbetagte Alteingesessene. Marija Solowjowa ist 91 Jahre alt. Die Zeit, als hier noch deutsche Ureinwohner lebten, hat sie nicht erlebt, sie kann sich aber an die Jahre erinnern, als es den Ortsbewohnern relativ gut ging. Marija stammt aus Woronesch in Zentralrussland, sie war Lehrerein von Beruf und siedelte im April 1957 ins Kaliningrader Gebiet über.
„Das Vergangene steht mir heute noch deutlich vor Augen. Warm war es und die Bäume standen voller Blüten – herrlich! Meine Freundin und ich, wir bekamen gleich Arbeit in Jasnoje, es mangelte in Schulen an Lehrkräften. Man sagte uns im Volksbildungsamt: ,Geht einfach die Straße entlang und sucht euch ein passendes Haus aus. Wir setzen die Fenster ein und laden davor Holz zum Heizen ab‘. So hat manґs damals getan. Es gab zu der Zeit im Ort Russen, die vor fast 10 Jahren als erste Übersiedler ins Gebiet gekommen waren. Sie stammten aus verschiedenen russischen Regionen, die durch Faschisten viel Leid erfahren hatten. Ich weiß nicht, warum – aus Rache oder weil es ungewiss war, wie lange sie noch in Preußen bleiben würden – sie schonten oder bewahrten nichts, weder die schönen Kachelöfen noch die geschnitzten Türrahmen. Schade, die Häuser waren ja schön! Es gab im Ort keine zerbombten Häuser, dafür aber viele, die absichtlich demoliert oder ausgeraubt wurden.
Ich habe als Grundschullehrerin bis zur Pensionierung gearbeitet. Das Leben wurde nach und nach immer besser, es gab in Kreis Slawsk mehrere Kolchosen, die nachher zu einem großen landwirtschaftlichen Produktionsbetrieb zusammengelegt wurden. Es gab eine Frisierstube, eine Bäckerei, eine Kinderkrippe und einen Kindergarten. Die Einwohner durften nun Gemüse- und Obstgärten bestellen. Dann aber brach alles zusammen. Die Obrigkeit riss sich Landmaschinen – zum eigenen Gebrauch oder zum Weiterverkauf – unter den Nagel. Die Gebäude wurden in Privatbesitz überführt. Wer die Arbeit verlor, stellte sich auf Zigarettenschmuggel um, die Staatsgrenze ist ja nah. Wie es mir geht? Besser als in den Kriegsjahren, jedoch schlechter als es einem in einer zivilisierten Welt gehen sollte. Der Staat zahlt mir Rente, sie reicht, um sich Brot und Milch zu kaufen. Zum Heizen decke ich mich mit Kohle und Holz ein. Das bringt viel Kopfweh, denn die Beschaffung von Brennstoff ist in unserem Dorf immer mit Problemen verbunden. Man hat uns einmal Erdgas in Aussicht gestellt. Das ist aber leeres Gerede, wir glauben denen da kein Wort.“
„Hoffnung stirbt zuletzt“
Kaukehmen erfreute sich vor dem Krieg eines guten Ansehens. Es gab in der Kleinstadt Bankfilialen, mehrere Gasthäuser, Frisierstuben, Apotheken und Bäckereien. Die Läden und Geschäfte handelten mit Textil- und Kolonialwaren, mit Fleisch und Gemüse, Schuhen, modischer Kleidung und Parfüm. Heutzutage gibt es im Zentrum von Jasnoje nur ein paar kleine Läden und – wohl eine Ironie des Schicksals – das Reklameschild einer Bestattungsfirma.
Trotzdem: Eine an einem historischen Laternenpfahl angebrachte Uhr zeigt die korrekte Zeit an. In der Nähe ist man dabei, ein wunderschönes, aus dem 18. Jahrhundert erhaltenes Kirchengebäude wiederaufzubauen. Es gibt eine Mittelschule, obgleich mit wenigen Schulkindern. Von insgesamt sieben Schulabgängern des Vorjahres stammen nur zwei aus Jasnoje, die restlichen fünf sind von den benachbarten Siedlungen.
Die Einwohnerzahl beläuft sich in Jasnoje laut Angaben des Wohnungsamtes auf ca. 1.400, in Wirklichkeit wohnen aber nur ca. 800 Menschen im Ort. Die Jugend wandert in Städte ab. Es gibt in Jasnoje eine Bibliothek und ein „Haus der Kultur“. Dieses ist in einem Bau aus deutscher Zeit untergebracht und weist einen Zuschauerraum auf, der erst 1966 gebaut wurde.
Meine nächste Gesprächspartnerin, Tamara Smirnowa, steht seit 40 Jahren an der Spitze dieser Kultureinrichtung. Sie kann sich an schönere Zeiten in Jasnoje erinnern:
„Wir hatten hier ein Laientheater und eine Bildergalerie. Zu Neujahrsfeiern kamen bis zu 200 Menschen, auch aus anderen Ortschaften, zusammen. Das hat sich jedoch in den letzten Jahren, besonders wegen Corona, in Luft aufgelöst. Um den Bevölkerungsschwund zu stoppen, sollte man hier zumindest einen Industriebetrieb eröffnen und die Landwirtschaft wieder auf die Beine stellen. Die Böden hier sind dafür bestens geeignet. Alles kann noch in geregelte Bahnen gebracht werden. Die Natur ist sehr malerisch und man könnte hier Touristen Ausflüge auf die Kurische Nehrung, auf dem Neman-Fluss oder zu hiesigen Seen anbieten. Dies wäre auf jeden Fall besser, als der Vergangenheit ewig nachzutrauern.“
Tatsächlich! Jasnoje scheint jetzt in einen Schlaf versunken zu sein. Alles, was gut und schön war, gehört der Vergangenheit an. Kann sich der Ort zu einem neuen Leben aufraffen?
Alexander Kateruscha