Ein Lied für alle
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner achtzehnten Wanderung begleiten.
Teil 18 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-3/2022
Auf der Hufenalle (Prospekt Mira) laden Parkbänke und einige Blumenbeete zu einer Rast ein. Doch plötzlich liegt der frohe Gesang einer Veranstaltung in der Luft. Vor uns steht ein Tor mit sechs Säulenpaaren (die von der Ruine der Altstädtischen Kirche stammen). Dahinter sind zwei Treppenaufgänge, die auf einen freien Platz führen. Ein Turm in kubischer Form krönt das Ensemble. Hier ist der frühere Walter-Simon-Platz.
Der Namensgeber (1857-1920) entstammte einer jüdischen Bankiersfamilie, studierte selbst jedoch Jura, Philosophie und Medizin. Als ehrenamtlicher Stadtrat unterstützte er aus seinem Vermögen großzügig den Schwimmunterricht am Oberteich, spendete Bücher und gab Geld für den Bau der Luisenkirche. Auch dem Farenheid’schen Armenstift im Roßgarten half er finanziell (das Gebäude von 1900 steht heute noch in der Nähe des Roßgärter Tores). 1892 schenkte er seiner Vaterstadt diesen 6,83 Hektar großen Sportplatz.
Der Königsberger Sport- und Turnverein e.V. (1922-1945) war einer der Nutzer, doch insgesamt konnten hier alle in einer gepflegten Gartenanlage einer gesunden körperlichen Betätigung nachgehen. In den 1930er Jahren erfolgte ein Umbau zu einer optisch einschüchternden Anlage, die so gar nicht zu dem ursprünglichen Zweck passte.
1954 wurde der russische Fussballclub „Baltika“ gegründet, der hier seine Spielstätte bekam. Die Fussballfans in Deutschland wissen, das Baltika sehr treue Fans hat, die ihrem Verein in tausende von Kilometern entfernte Auswärtsspiele nachreisen. Diese Fanschaft ist auch ganz nach deutschem Geschmack und so seien die russischen Fans von FC Baltika sportlich gegrüßt. Unvergessen die vier Spiele der Fussball-Weltmeisterschaft 2018 in Kaliningrad. Die Gastfreundschaft und die energiegeladene, positive Stimmung, die die Stadt in diesem Sommer hatte, hallen heute noch in der Ferne nach und geben uns Bedarf, diese Momente wieder zu teilen.
Eine ähnliche Stimmung zeichnet den „Königsberger Tiergarten“ aus. 1895 durch einen Verein gegründet, wurde Hermann Claaß, ein Zahntechniker und Apotheker aus Marienwerder, sein erster Direktor. 893 Tiere in 262 Arten gehörten zur Erstaustattung, darunter auch Großkatzen, Bären und der Elefant „Jenny“, der sich als kinderlieb erwies und die kleinen Besucher in einem aufgeschnallten Gestell durch den Park trug. Es gab ein Restaurant, ein Weinlokal, exotische Ausstellungen, Platzkonzerte und sogar einen Fesselballon, in dem man für 3 Mark auf 300 m Höhe steigen konnte.
1913 schuf der Königsberger Künstler Walter Rosenberg ein Denkmal mit dem Relief von Claaß und einem Kind, das drei Berglöwen füttert. Es steht heute noch. 1930 wurde zum 700. Todestag des Minnesängers Walther von der Vogelweide eine Skulptur des Königsberger Künstlers Georg Fuhg aufgestellt. Dieses Denkmal erfuhr nach dem Krieg eine lange Odyssee innerhalb der Stadt, bei der es sogar einen Nasenstüber abbekam. Die Rückkehr an seinen Platz im Tiergarten erfolgte 2017. Inzwischen war auf den Kriegstrümmern dieser herrlichen Anlage der Zoo entstanden; zu Beginn mit den einzigen Tieren, die überlebt hatten: Dammhirsch, Dachs, Hausesel und ein Nilpferd. Das Hippo, „Hans“ getauft, hatte bei den Kämpfen sieben Granatsplitter abbekommen und war in einen Graben gestürzt, wo es zwei Wochen ohne Futter und Wasser lag. Es ist dem russischen Zoosanitäter Wladimir Petrovitsch Polonsky zu danken, dass er „Hans“ wieder auf die Beine brachte. Wie überliefert, kamen hierbei auch einige gute Portionen von Wodka zum Einsatz (bei dem Nilpferd). Herr Polonsky war sehr fürsorglich.
Am 27. Mai 1947 wurde der Zoo mit 50 Tierarten als „Kaliningrader Zoo“ wiedereröffnet. Eine 2012 aufgestellte Skulptur erinnert an diese vier überlebenden Tiere. Der Zoo ist heute Mitglied in der Euroasiatischen regionalen Assoziation von Tiergärten und Aquarien. Dank einer hochkompetenten Leiterin wurde der Zoo in den letzten Jahren modernisiert, ohne dabei seine historische Substanz zu verleugnen.
Am 14. August 2017 besuchte die 88-jährige Dorelise, Tochter von Georg Fuhg, diese Stätte ihrer Kindheit. Freundliche Angestellte des Zoos hatten der alten Dame einen Empfang von unglaublicher Herzenswärme und Freundschaft bereitet. Dorelise erzählte aus der noch wachen Erinnerung, und alle erlebten Stunden von seltener Tiefe und Wahrhaftigkeit. Gegen Ende wurde das Lied „Am Brunnen vor dem Tore“ angestimmt – ein Wunsch von Dorelise. Sie hatte den Text in deutsch und russisch (letzterer aus dem „Königsberger Express“) ausgehändigt. Spontan erhob sich ein russisch-deutscher Chor, der das alte Lied aus Franz Schubert’s (1797-1828) „Winterreise“ mit dem Text von Wilhelm Müller (1794-1827) sang. Im Text heißt es unter anderem: „Und seine Zweige rauschten / als riefen sie mir zu: / Komm her zu mir, Geselle / hier findst du deine Ruh!“. Angesichts der oft tragischen Vergangenheit hatte dieses Lied nicht nur für Dorelise eine besondere Bedeutung. „Hier findst du deine Ruh!“– ein innerer Frieden, der durch das imaginäre Band der Freundschaft in diesem russisch-deutschen Chor bestätigt wurde.
Die alte Königsbergerin sagte im Rückblick: „Ja, da waren wieder Zeit und Raum eins, und auch der rote Granit fing an zu klingen. Denn die vielen Hammerschläge, die mein Vater gebraucht hatte, um den Minnesänger Gestalt werden zu lassen, fügten sich in der Erinnerung zu einem besonderen Klang, der die Gegenwart durchdrang. Da das Lied auch in russischer Sprache gesungen wurde, verwebte sich alles zu einem besonderen Tongespinst, das alle Teilnehmer berührte.“
Lassen Sie uns daran denken, wenn die heutige Gegenwart wieder von Leid und Unruhe und Sorge geprägt ist. Das menschliche Leben hat unglaubliche Kräfte, im Guten wie im Schlechten. Doch es ist in seiner Zerbrechlichkeit immer gefährdet – am Körper wie an der Seele. Es gilt, sorgsam einander zu achten und wertzuschätzen. Im Furor innezuhalten und sich gedanklich auf diese Zerbrechlichkeit einzustellen. Es kann oft ein erster Weg zur Heilung eines Streites sein. Wer wüsste das besser als die Menschen, die mit dieser Stadt verbunden sind. Zum Abschied winkt uns der Bär nach, als wollte er sagen: „Bleibt gesund und kommt alle wieder – gemeinsam !“
Jörn Pekrul