Das neue Geschäftshaus links vom Hotel „Moskau“ zeichnet sich durch eine „diskrete Eleganz” aus. Foto: Jörn Pekrul

Lebensbilder einer Epoche

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner sechzehnten Wanderung begleiten.

Teil 17 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE Nr. 11-12/2020, 1-12/2021 und 1-2/2022

Vier außergewöhnliche Biographien, die sich zeitmäßig fast überlagern, auf die man in ein und demselben Viertel stößt und die trotzdem nicht unterschiedlicher sein könnten, weist Königsberg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf.

Da wäre Ernst Wiechert, der 1887 in  Kleinort/ Kreis Sensburg geboren wurde. Nach einem Studium an der Albertina lehrte er ab 1911 am hiesigen Hufen-Gymnasium. Als Kriegsfreiwilliger im 1. Weltkrieg erwarb er sich Meriten und eine Auszeichnung, gleichzeitig schrieb er seine ersten literarischen Werke. Die Motive waren die Melancholie der dunklen Wälder in Masuren, die Einsamkeit und der Rückzug von der Zivilisation. Dazu kamen die Erfahrungen als Frontsoldat in einem Krieg, der schon längst alle Vorstellungen von Heldentum an der harten Realität hatte zerschellen lassen.

Man muss es wohl dem geringen Alter und diesen Eindrücken zuschreiben, dass diese ersten Werke teilweise verwerfliche und inakzeptable Passagen beinhalten, die der Autor später selbst als „unheilvollen Rausch“ benannte. Erst Ende der 1920er Jahre fand er zu einem tiefen Humanismus christlicher Prägung, der ihn in den 1930er Jahren zu einem sehr bekannten und erfolgreichen Schriftsteller machte. Er schuf Erzählungen, Romane, Hörspiele und Lyrik. Ein Höhepunkt wurde im Jahre 1936 seine Autobiographie „Wälder und Menschen“. Wiechert war prädestiniert, ein Aushängeschild der Herrschenden zu werden, stellte jedoch am 16.4.1935 in einer Rede an der Universität München klar, dass er für die gegebenen Verhältnisse nicht zu gewinnen sei.

Diese Rede („Der Dichter und die Zeit“) wurde in einen Laib Brot eingebacken und nach Moskau geschmuggelt, wo sie 1937 in der Zeitschrift „Das Wort“ veröffentlicht wurde. Wiechert war 1938 fast zwei Monate inhaftiert, doch ein Jahr später stellte sich mit dem Buch „Das einfache Leben“ ein großer Erfolg ein. Es beschreibt den Rückzug eines Korvettenkapitäns nach Masuren und die Wahrheit in der Natur. Das Buch sollte verboten werden, doch die Ablehnung der Zensur erreichte den Verlag nicht rechtzeitig. 1942 waren bereits 260.000 Exemplare verkauft. Es war das letzte Buch, das Ernst Wiechert vor Kriegsende herausbrachte. Danach erschienen noch einige Werke, die jedes für sich bemerkenswert sind. Ernst Wiechert siedelte 1948 in die Schweiz über, wo er 1950 starb.

Nur eine Straßenecke weiter, in der Hornstrasse (ul. Serschanta Koloskowa), befindet sich eine Häuserzeile von 1928. Hier lebte ab 1929 Agnes Miegel (1879-1964), die eine Dichterkollegin von Ernst Wiechert war, wenngleich weitaus weniger erfolgreich hinsichtlich der Zahl verkaufter Bücher und deren Reichweite. Doch sie verstand es, ein Panorama des ostpreußischen Landes und seiner Menschen entstehen zu lassen (ihr frühes Gedicht „Am Gartenzaun“ ist eine wunderbare Liebeserklärung an Russland). Sie nahm später einen gänzlich anderen Weg als Wiechert. Nach dem Krieg wurde sie von der Spruchkammer als „schuldlos“ eingestuft. Dass sie während der nationalsozialistischen Diktatur zur glühenden Hitler-Verehrerin geworden war, wird heute jedoch nicht mehr verschwiegen. In Deutschland wurden Straßen, die ihren Namen trugen, inzwischen wieder umbenannt. Auch an ihrem früheren Königsberger Wohnhaus wurde 1992 eine Gedenkplatte angebracht, im Jahre 2015 aber wieder entfernt.

Aus der zwei Straßen weiter parallel verlaufenden Goltzstraße  (ul. Gostinaja) kommen uns nun ein paar musikalische Töne entgegen. Hier lebte, vor dem Umzug in die Steinmetzstraße/Schrötterstraße (KE 10/21), die Familie Kurt Wieck und Hedwig Wieck-Hulisch.

Das Ehepaar bildete mit Hermann Hoenes und August Hewers das um 1919 gegründete „Königsberger Streichquartett“, das neben Werken von Beethoven auch Kompositionen von Paul Hindemith, Bйla Bartуk und Arnold Schönberg im Repertoire hatte. Es spielte regelmäßig im Rundfunk und war in ganz Ostpreußen bekannt, ja hatte sogar Gastauftritte in Danzig und Zoppot.

Ihr Sohn Michael Wieck, den Königsbergern durch seine Autobiographie bekannt, berichtete viele Jahrzehnte später, dass seine Eltern in der Goltzstraße getrennt lebten: der Vater auf der einen, die Mutter auf der anderen Seite der Straße. Das war Ende der 1920er Jahre in Deutschland eine für Großstädter durchaus gewöhnliche, moderne Lebensform. Doch hier hatte sie praktische Gründe: Da beide Eltern Musik unterrichteten, brauchten sie getrennte Wohnungen, um einander nicht zu stören.

Zwei interessante Gebäude beenden die heutige Wanderung. Zum einen die 1936 errichtete Hauptverwaltung für die Nordstern-Versicherung, die bereits 1867 in Berlin gegründet worden war.

Der Architekt Siegfried Saßnick (1903-1971) wurde in Königsberg geboren und kam nach einer Schulzeit in Allenstein und einem Studium in Berlin im Jahre 1927 nach Königsberg zurück. Er baute unter anderem das Scala-Kino auf den Hufen aus und schuf das Raiffeisengebäude an der Stresemannstraße (Sowjetskij Prospekt).

Sein „Nordstern-Haus“ (heute „Hotel Moskau“) ist ein schmuckloser Zweckbau aus Ziegeln. Die breiten Fensterrahmen und der Eingangsbereich zeigen die monumentale Architektur der 1930er Jahre. Dennoch verweisen Rautenmuster in den Ziegelsteinen auf die traditionellen Muster der Volkskunst in Ostpreußen. Schauen Sie einmal auf die Reihe unterhalb des Daches: Hier sind durch vorgeschobene Ziegelsteine die Wappen von Berlin und Danzig zu erkennen. Und ein zusätzliches Extra macht diese Ansicht einzigartig: Es sind keine Autos auf der Straße zu sehen (denn Ihr Wanderführer stand sehr früh im Sommer auf, um dieses Foto bei der ersten Morgensonne zu machen). Übrigens ist interessant, dass um 1936, also etwa zur gleichen Zeit, auf dem Hansaring das Rundfunkgebäude entstand – im besten Bauhaus-Stil, der zu dieser Zeit im übrigen Land schon als überholt galt. In jenen Jahren führte das entfernte Ostpreußen in manchen Bereichen eben noch ein kaum bemerktes, kleines Eigenleben.

Ein paar Schritte weiter begegnen wir einem Kaliningrader Geschäftshaus, das in den letzten Jahren entstanden ist. Im Stil passt es sich seiner Umgebung an und wirkt dennoch hervorgehoben mit seiner diskreten Eleganz und einem weiträumigen Außenbereich. Da lächelt auch eine Blumengöttin, die über dem Eingang eines der benachbarten Häuser den Lauf der Stadt betrachten darf. Wir wollen es ihr gleichtun und mit einem Lächeln die ersten Strahlen der Frühlingssonne begrüßen.

Jörn Pekrul