Der Autor im Gedenkzimmer für Juri Iwanow (1928–1994), Kaliningrader Intellektueller, Schriftsteller und Heimatforscher, der sehr viel zum gegenseitigen Verständnis und einem unbefangenen Kennenlernen der Menschen aus Königsberg und Kaliningrad beigetragen hat. Foto: Jörn Pekrul

Ein Fest zum Jahresende

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner vierzehnten Wanderung begleiten.

Teil 14 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1/2021, 3-11/2021

Die Luisenallee (ul. Komsomolskaja) endet in der Schleiermacherstraße (ul. Borsowa), wo das alte Königsberg nach Norden abschloss. Keine Villen mehr, dafür aber gemeinnütziger Wohnungsbau aus den 1920er Jahren. Wir gehen nach rechts in Richtung der Stresemannstraße (Sowjetski Prospekt), wollen aber nicht der Hauptstraße folgen, sondern biegen gleich an der ersten Straße wieder rechts ein in die Hindenburgstraße (ul. Kosmonawta Leonowa).  Auch dies ist eine interessante Straße im Königsberger Westen. An der Ecke zur Straße „Am Landgraben“ (ul. Lejtenanta Janalowa) befand sich früher das Elektrizitätswerk. Es wurde 1897 von der Pferde-Eisenbahn-AG gebaut und diente dazu, die Strecken der Pferdebahn zu elektrifizieren und die Villen auf den Hufen mit Strom zu versorgen. Später kam noch ein kleines Depot für die Straßenbahn hinzu, die auf der Hagenstraße fuhr (und auch heute noch fährt). Doch von diesem Elektrizitätswerk ist nichts mehr zu sehen.

Unser Blick fällt dann auf einen Teil der Nachbarbebauung. Ein markanter Turm hat sich erhalten. Er dürfte eine für den Straßenbahnbetrieb zugehörige Funktion gehabt haben, worauf auch die industrielle Bauweise und die Turmuhren hinweisen. Und einmal an dieser Stelle angelangt, macht eine Installation auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf sich aufmerksam. Es ist eine Darstellung eines Flugzeugs, das im Begriff ist, zu einem Steilflug in die Lüfte abzuheben. Eine Tafel gibt Auskunft: Wir stehen vor einem Denkmal für die Piloten der Ostseeflotte mit doppeltem rotem Banner (eine Tapferkeitsauszeichnung für militärische Heldentaten).

Wir kehren zur Hindenburgstraße zurück und passieren die ehemalige Simsonstraße (heute das östliche Ende der ul. Karla Marksa). Der Name stellt eine weitere Persönlichkeit aus der Königsberger Stadtgeschichte vor. Eduard von Simson (1810–1899) war ein Königsberger Jurist, der es mit viel Fleiß und Zielstrebigkeit in jungen 26 Jahren zu einer ordentlichen Professur gebracht hatte. Von 1855 bis 1857 war er Rektor der Albertina. Bekannt wurde von Simson jedoch durch die Deutsche Revolution von 1848/49, eine liberale Bewegung, die eine nationale Einheit und Unabhängigkeit von den damals restaurativen Bestrebungen der Herrscherhäuser anstrebte. Hieraus entstand die Deutsche Nationalversammlung in Frankfurt am Main, deren Präsident Eruard von Simson dank seiner herausragenden Fähigkeiten wurde. 28 deutsche Regierungen hatten eine Verfassung ausgearbeitet, die jedoch vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV. abgelehnt wurde. Die Früchte der Bewegung sollten erst viele Jahrzehnte später zur Reife gelangen, und so gilt von Simson noch heute in Deutschland als „der erste deutsche Verfassungsvater“.

Als Nächstes treffen wir auf ein Schmuckstück aus neuerer Zeit. Es befindet sich in einem Plattenbau an der Ecke zur Hagenstraße. Zu Beginn unserer Wanderungen hörten wir schon von Menschen und Geschichten im Königsberger Westen (KE 12/2020). Hierzu gehört auch Juri Iwanow (1928–1994), Seefahrer, Schriftsteller und Heimatforscher, dessen Verständigungsarbeit sehr viel zu einem unbefangenen Kennenlernen der Menschen aus Königsberg und Kaliningrad in den 1990er Jahren beigetragen hat. Bei den Königsbergern ist er unvergessen und geachtet. Hier befindet sich nun ein kleines, aber sehenswertes Gedenkzimmer, das einige seiner persönlichen Besitztümer enthält. Darunter sind auch eigenhändige Zeichnungen der ostpreußischen Landschaft, die zeigen, über welche Talente er verfügte. Fast andächtig nähert sich der deutsche Besucher dieser großen russischen Persönlichkeit. Ein Besuch des Zimmers lohnt sich.

Beim Überqueren der Hermannallee (ul. Tschaikowskogo) fällt auf der rechten Seite ein Mehrfamilienhaus auf, das eine künstlerisch interessante Außenfassade hat. Das Haus wurde um 1900 gebaut und ist, bis auf den Haupteingang, vollkommen symmetrisch. Zwei Türme mit Spitzdächern verstärken diesen Eindruck. Der Fassadenschmuck ist reich an Ornamenten und phantasievollen Mustern. Die Etagen verfügen über jeweils zwei Dreizimmerwohnungen. Trotz seines noblen Aussehens war auch hier der Mittelstand zu Hause.

Es folgt das frühere Fernsprechamt Hindenburg. Die Außenfassade wurde zwar nach dem Krieg verändert, doch insgesamt war es ein von Anfang an zweckmäßig errichtetes Gebäude. Hier ist nichts mehr von den Verzierungen und Ornamenten zu sehen, die auf den 30 Jahre zuvor entstandenen Villen und Mehrfamilienhäusern angebracht sind. 

Auch das alte Königsberg modernisierte sich im frühen 20. Jahrhundert in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Als Bindeglied zwischen diesen beiden Epochen kann das 1912 entstandene Eichamt in der Behmstraße (ul. polkownika Safronowa) gelten. Es weist einen eigenartigen Mix in der Architektur aus. Die Säulen sind neoklassizistisch, was damals eine beliebte Stilrichtung war. Die Bauweise des Daches lässt allerdings Anklänge an den Barock erkennen. Insgesamt ist es ein gut erhaltenes Haus, das heute für gesellschaftliche Empfänge genutzt wird. Unter anderem hat hier in den letzten Jahren die internationale russisch-deutsche Gesellschaft der „Freunde Kants und Königsbergs e. V.“ das berühmte „Bohnenmahl“ zum Andenken an den Geburtstag von Immanuel Kant abgehalten. Ein traditionelles Treffen, das russische und deutsche Freunde von Kant und der Stadt Königsberg-Kaliningrad zusammenbringt. In einem reichen gedanklichen und gesellschaftlichen Austausch wird die Philosophie dieses großen Bürgers der Stadt den heutigen Menschen nähergebracht (www.freunde-kants.com).

In dieser festlichen Stimmung wollen wir den heutigen Wanderungsabschnitt mit einem Zitat von Kant beenden, das gleichzeitig unsere eigenen Anstrengungen beim Entdecken der Stadt würdigt: „Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du selbst in deiner eigenen Einbildung gelebt.“ In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit in diesem Jahr und wünsche Ihnen einen frohen Jahresausklang und ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Jörn Pekrul