Das ehemalige Konopackische Stift in der Luisenallee 37 (heute uliza Komsomolskaja). Foto: J. Pekrul

Kontraste in Kaliningrad

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner dreizehnten Wanderung begleiten.

Teil 13 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1/2021, 3-10/2021

Es lohnt sich, durch die Straßen in Mittelhufen zu gehen. Bleiben wir auf der Luisenallee (uliza Komsomolskaja) und gehen in nördlicher Richtung weiter. Eine Erscheinung an einer Hausfassade gibt Rätsel auf. Da ist zu lesen: „Kono“… und dann ein „c“ und zwei Punkte und noch einige Buchstaben. Es befindet sich an einem Wohnhaus, das drei Eingänge hat. Risalite im Stil des Neobarock weisen auf die Bauzeit um 1900 hin. Hier war früher das „Konopackische Kaufmannsstift“ von 1793 untergebracht, eine weitere Stiftung, deren Entstehung wir bereits auf unserem letzten Wanderungsabschnitt kennengelernt haben. Das Gebäude vor uns verweist auf Johann Friedrich Konopatzki, der im 18. Jahrhundert mit dem Handel von Gewürzen zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen war. Gleichwohl wusste er, dass das unternehmerische Risiko – daran hat sich bis heute nichts geändert – einen Kaufmann sehr schnell in die Armut treiben kann. Als er starb, gründete seine Witwe Anna Louise Konopatzki im Jahre 1791 das „Konopackische Stift“, das verarmte altstädtische Kaufleute unterstützen sollte. Ihr Haus befand sich zuerst in der Tragheimer Kirchenstraße in der Nähe der Universität. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wechselte die Adresse in den Königsberger Westen. Das Konopackische Stift bestand bis zum Ende. Das Haus, vor dem wir stehen, beherbergte zuletzt den typischen Mittelstand: Lagerverwalter, Kaufleute, Kleinrentner, einen Gärtner, zwei Witwen und einen Disponenten.

Im weiteren Verlauf, und zwar an der Ecke zur Stägemannstraße (ul. Tschernyschewskogo), fällt eine interessante Villa auf. Zwei Erker fassen die Vorderfront ein und an ihrem oberen Ende werden die Dächer durch zwei geschwungene Giebel überragt. Auch hier ein Neobarock, der damals – vor dem Aufkommen des Jugendstils – viele Gebäude prägte. Das Haus enthielt sechs Wohnungen. Der letzte Eigentümer verewigte sich vor der Eingangstüre. Von den beiden Löwen, die das Haus vor ungebetenen Gästen schützen sollen, trägt einer auch heute noch auf seinem Schild den Namen und das Jahr: „H. Gronau – 1928“. Am Ende lebte noch seine Witwe hier und trotz seines herrschaftlichen Aussehens blieb das Haus eine Unterkunft für den Mittelstand: ein Superintendent, also ein Inhaber eines Leitungsamtes in der evangelischen Kirche, eine Witwe, ein Postoberinspektor, eine Pensionärin, ein Zollinspektor im Ruhestand und ein Berufsloser wohnten hier mit ihren Familien.

Ein unzweifelhaftes Heldendenkmal der jüngeren russischen Geschichte begegnet uns nun auf der rechten Straßenseite, dem früheren „Humboldtplatz“.  Nadelhölzer geben dem Areal eine immergrüne Ansicht und eine ewige Flamme sowie eine schwarze Marmorplatte steigern den Eindruck einer würdigen Gedenkstätte. Es handelt sich um ein Denkmal, das Kaliningrad den bei der Erstürmung von Königsberg gefallenen sowjetischen Soldaten errichtet hat. Eine steinerne Wand zeigt das Antlitz von sieben Männern. Es ist ein Ausdruck der Trauer, der auf ihren Gesichtern zu sehen ist.  Trauer ist es, die bleibt. Männer, die auch Familien hatten, Brüder, Freunde.  Der Dreiklang: Krieg. Macht. Leid.

Ich fasse den Begriff als Imperativ auf: Denk-mal! Der Mensch braucht Erinnerung. Hier ist ein ernster Ort, der zum Nach-Denken anregt. Geistliche Erbauung ergänzt die Reflexionen und kann sie auffangen: Eine benachbarte kleine Kapelle bietet Seelsorge an. Es handelt sich um die Kirche des Heiligen Apostels Andreas des Erstberufenen, die – wie ich hörte – in Kaliningrad einen guten Ruf hat. Auch dies ist ein Nachkriegsbau, der einen Eindruck gibt vom aktuellen Alltag.

Den heutigen Abschnitt wollen wir mit einem Gebäude beenden, das am nördlichen Ende der Luisenallee liegt. Nur ein Steinwurf von der ehemaligen Gehörlosenanstalt entfernt (KE 7/2021) befand sich hier der Schul- und Werkstättenbetrieb der Ostpreußischen Blindenanstalt Königsberg. Die Fürsorge für die erblindeten Menschen hatte eine lange Tradition in Königsberg. Bereits 1819, nach den Freiheitskriegen, wurde auf Betreiben des Grafen Bülow von Dennewitz, Armeegeneral, eine Kriegsblindenunterrichtsanstalt im Sackheim eröffnet. Sie zog 1846 in die Vorstadt und 1867 in die Brandenburger Torstraße. Am 18. Oktober 1909 wurde der hiesige Gebäudekomplex, 28 Morgen groß, im Königsberger Norden eröffnet. Es war ein ideales Areal. Es gab ein Männer- und ein Frauenheim. Weiträumige Werkstätten boten 500 blinden Menschen Wohnraum und Arbeit. Den blinden Kindern wurde in einem preußischen Gesetz vom 7. August 1911 der Schulunterricht verbindlich zugesichert.  Parkanlagen für die erwachsenen Blinden und Gartenparzellen für die Beamten kamen hinzu. Ein großer Anstaltsgarten ermöglichte den Anbau von Kartoffeln, Gemüse und Obst. Sogar eine Imkerei mit 12 Bienenstöcken trug zur Verbesserung der Ernährung bei. Die Kriegs- und Nachkriegsereignisse ließen den Gebäudekomplex nahezu unbeschädigt. Selbst die beiden eindrucksvollen Löwen am Eingang zum Direktorenhaus blieben erhalten.

Gleichwohl war die Adresse für lange Jahre der Öffentlichkeit nicht zugänglich, da hier eine staatliche Institution als Nutzer eingetragen war. Zwei Büsten von russischen Persönlichkeiten des Militärs zieren heute den Vordergarten vor dem ehemaligen Direktorengebäude. Sie blicken auf ein Haus, das gegenüber in der Luisenallee Nr. 84–88 steht und die entzückenden Ornamente von Lieselotte Backschies und Arthur Steiner trägt, die wir bereits bewundern konnten (KE 5/2021). Eine Begegnung, die zeigt, welche Vielfalt an Kontrasten diese Stadt vorzuweisen hat. Sie machen selbst einen alltäglichen Gang auf einer alltäglichen Straße zu einer spannenden Entdeckungsreise.

Jörn Pekrul