Leben und Leidenschaften in Mittelhufen
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner zwölften Wanderung begleiten.
Teil 12 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1/2021, 3-9/2021
Die diskrete Eleganz der Schrötterstraße ist nicht nur äußerlich. Viele Geschichten gibt es zu entdecken, wie es das Museum „Altes Haus“ in der heutigen ul. Krasnaja 11 beweist. Mit zwei Fotos als „Schmeckprobchen“, wie man früher in Königsberg sagte, wurde es uns schon in der letzten Ausgabe angekündigt. Das Museum ist seit 2014 in einer Wohnung untergebracht und präsentiert liebevoll zusammengestellte Erinnerungsstücke aus der Zeit um 1912. Man erhält einen authentischen Eindruck vom Leben der Familie des Kaufmanns Gustav Grossmann, die damals hier wohnte. Der Gang durch die Räume ist ein Eintauchen in eine vergangene Welt, die mit allen Sinnen erfahren wird. Informationen über die Straße und die alte Stadt machen jeden Besuch zu einem Erlebnis.
Ein paar Häuser weiter, an der Ecke zur Steinmetzstraße 26, wohnte der Musiker Kurt Wieck mit seiner Familie. Sein Sohn Michael sollte später – ungewollt – ein Ausnahmeleben zwischen dem Abgrund des Todes und höchster musikalischer, vor allem aber menschlich-erfahrener Reife führen. Seine Bücher „Zeugnis vom Untergang Königsbergs“ und „Ewiger Krieg oder ewiger Friede“ sind Standardwerke geworden. Selbst im hohen Alter war er sehr wach und dankbar geblieben für seine Aufenthalte in Kaliningrad; es war ihm ein Anliegen, dass die Menschen zueinanderkommen. Als er am 27. Februar 2021 starb, veröffentlichte der „Königsberger Express“ in seiner Ausgabe 04/2021 einen Nachruf, der auch viele Königsberger in Deutschland bewegt hat.
Wir folgen dem Verlauf der Steinmetzstraße (ul. Stepana Rasina) nach Westen, biegen aber gleich wieder nach links ab in die Hardenbergstraße (ul. Pugatschowa). Wir treffen auf der linken Seite auf ein Haus, an dem man noch die alten deutschen Buchstaben erkennt: „Hagedorn’sches Stift“. Es weist auf eine interessante Entwicklung in der Stadtgeschichte hin. Im Zuge der Aufklärung entstanden viele karitative Vereine, die sich der Fürsorge für die Armen annahmen. Wir hatten bereits von der Gehörlosenanstalt in der Schleiermacherstraße (ul. Borsowa) gehört (KE 07/2021).
Doch auch private Vereine und ihre Einrichtungen entwickelten eine Struktur in der Armenpflege. Sicherlich, es wird manches allzu Menschliche dabei gewesen sein, z. B. das Prestigebedürfnis wohlhabender Bürger, dabei zu sein und durch die Höhe des Beitrages bekannt zu werden. Doch im Ganzen notiert die Stadtgeschichte von Königsberg einen großen Idealismus, mit dem Bürger aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen ihre Zeit und ihr Geld opferten, um auch die Schwachen am Gemeinwohl teilhaben zu lassen.
Eines dieser Häuser von 1906 steht hier: Ein Stift, das bereits 1821 von der Witwe des Kaufmanns und Stadtrates Johann Christoph Hagedorn (1745–1819) gegründet worden war und sich zuvor auf dem Gelände des ehemaligen „Skalichienhofes“ befand (die spätere Tragheimer Kirchenstraße, heute ul. Podpolkownika Iwannikowa).
Der Name Skalichienhof verweist übrigens auf eine finstere Gestalt, die um 1550 mit märchenhaften Adelstiteln durch Europa tingelte und 1561 auf Einladung von Herzog Albrecht nach Königsberg kam: Paulus Skalichius (geb.1534 als Pavao Skalic in Zagreb); ein kroatischer Humanist und Universalgelehrter, der das Vertrauen Herzog Albrechts gewann. Skalichius missbrauchte es später für seinen Drang zur Verschlagenheit, politischer Einmischung und Ränken. Seine fürstliche Unterbringung nördlich des Schlosses wurde der „Skalichienhof“ genannt, doch der junge Mann trieb es schließlich zu toll und trat nach nicht mehr lösbaren Konflikten die Flucht nach Danzig an, wo er 1575 sehr früh starb. Ein kleiner Exkurs, der einmal mehr darauf hindeutet, welche spannungsgeladenen und leidenschaftlichen Geschichten die Königsberger Stadtgeschichte aufzubieten hat. Das Hagedorn’sche Stift bestand bis zum Ende.
Das Königsberger Adressbuch von 1941 verzeichnet Paul Hagedorn noch als obersten Vorsteher des Stiftes und Frau Elise Hagedorn als Mittelschulrektorin im Ruhestand. Vielleicht war Frau Hagedorn auch öfters im Lehrerinnenheim gewesen, auf das wir blicken, wenn wir von der Hardenbergstraße auf den Hammerweg (Prospekt Mira) treten und nach Westen blicken. Das Haus steht heute noch, wenn auch stark verändert. Vor dem Krieg besaß das Lehrerinnenheim zu beiden Seiten des Giebels eine höhere Bebauung, deren Reste jedoch – wie man heute sieht – geschickt zu einem einzelnen Baukörper verbunden worden sind.
Auf den Hufen biegen wir links ab und passieren noch einmal das Tiepolt’sche Stift. Es wurde als Waisenhaus gegründet. Wir sind ihm bereits am Anfang unserer Wanderung begegnet (KE 12/2020) und wollen daher heute weitergehen, um an der übernächsten Straße links abzubiegen. Wir betreten die Luisenallee (ul. Komsomolskaja). Und da fällt gleich zu Anfang ein alter Backsteinbau mit vielen Treppen auf. Es ist, wie heute noch zu lesen ist, die ehemalige „Johanna-Ambrosius-Schule“, damals eine Volksschule für Mädchen. Erinnern wir zum Abschluss unseres heutigen Weges an diese außergewöhnliche Namensgeberin Johanna Ambrosius (1854–1939). Geboren in ärmsten Verhältnissen bei Ragnit, wuchs sie mit harter Arbeit auf dem Feld und später als Wirtschafterin auf fremden Gütern auf. Nach 25 Jahren Ehe mit einem Bauern wurde sie 1900 Witwe; ihr erstes Kind starb 1908. Sie zog daraufhin mit dem Sohn nach Königsberg. Ein dichterisches Talent war ihr zu eigen; und ihre Schwester Martha machte einige ihrer Gedichte bekannt. Dies wurde zum Wendepunkt. Ambrosius stimmte einer Veröffentlichung zu, um ihrem Sohn Erich eine Ausbildung als Lehrer zu ermöglichen. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen. Ihre empfindsamen Naturdichtungen wurden in ganz Deutschland gelobt und englische Übersetzungen feierten sie selbst in Amerika als „German Sappho“. Mit einem Auszug aus ihrem Gedicht „Mein Heimatland“ von 1884 wollen wir den heutigen Wanderungsabschnitt beenden. Es gilt als das erste, das ältere Ostpreußenlied: „Sie sagen all‚, du bist nicht schön / mein trautes Heimatland / …. / und trägst du auch nur schlicht Gewand / und keine stolzen Höh‚n: / Ostpreußen hoch, mein Heimatland / wie bist du wunderschön!“
Jörn Pekrul