Die Familie derer von Schrötter und eine Straße in Königsberg
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner elften Wanderung begleiten.
Teil 11 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-3-4-5-6-7-8/2021
Wenn man an der ehemaligen Gehörlosenanstalt weiter nach Osten geht, wird eine Straße überquert, deren deutscher Name auf eine der prominentesten Familien Ostpreußens verweist: von Schrötter. Sie ist auch heute noch eine gediegene Straße mit einem teilweise sehr gut erhaltenen Baubestand, der durch Blumenrabatten und begrünte Vorgärten einen Hauch des frühen 20. Jahrhunderts verströmt. Die heutige uliza Krasnaja bekam ihren ursprünglichen Namen durch das Wirken zweier Vertreter dieser Familie, nämlich Friedrich Leopold (1743–1815) und Carl Wilhelm (1748–1819) von Schrötter. Beide lebten schon im ausgehenden 18. Jahrhundert die Werte der Aufklärung und sollten später maßgeblich dazu beitragen, den Staat in Gänze zu reformieren. Die Geschichte geht aber noch weiter zurück.
Die Familie derer von Schrötter ist schon seit 1203 als schweizerischer und alemannischer Ministerialadel am Oberrhein nachgewiesen. Augustin von Schrötter ging Anfang des 16. Jahrhunderts mit dem Orden nach Königsberg. Der Bestimmung der Stadt als „Bollwerk des christlichen Abendlandes im Osten“ sollte schon sein Urenkel Johannes von Schrötter nachkommen. Als Vize-Schatzmeister von Litauen und General-Postmeister des polnisch-litauischen Königreichs war er materiell in der Lage, 1683 mit einem selbstfinanzierten Dragonerregiment am Türkenkrieg von König Johann III. Sobieski teilzunehmen. Die Eroberung Wiens durch die Türken war nur noch eine Frage der Zeit, als am 12. September 1683 die alles entscheidende Schlacht am Kahlenberg stattfand. Ausschlaggebend für den Sieg über die angreifenden Türken und damit auch für den Beginn der Rückeroberung Ungarns war die Schlagkraft der polnischen Kavallerie. Damit zählte auch Johannes von Schrötter zu den Siegern der Befreiung zunächst Wiens und dann Europas. Am 13. März 1700 wurde er als Belohnung für seinen militärischen Beitrag vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Leopold I. zum Reichsfreiherrn und Magnaten von Ungarn ernannt. Doch die Familie blieb Ostpreußen treu. 1702 wurde in Wohnsdorf bei Königsberg (heute: Kurortnoje) ein Gut mit einer Ordensburg aus dem 14. Jahrhundert erworben. Der Ort wurde ein Heim kultivierter und häuslicher Gastlichkeit. Selbst Immanuel Kant pflegte freundschaftliche Beziehungen zur Familie von Schrötter und hielt sich mehrfach in Wohnsdorf auf.
Zu dieser Zeit wuchsen die Ideen der Aufklärung auf dem Boden, den der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. und sein Sohn Friedrich II. bereitet hatten: Die preußischen Tugenden wie Pflichterfüllung, Verlässlichkeit, Redlichkeit, Fleiß und Treue wurden selbstverständliche Umgangsformen im Alltag. Es mag ein Grund dafür sein, dass Preußen am Ende des 18. Jahrhunderts nicht in einer revolutionären Gewaltorgie wie Frankreich nach 1789 versank. In Preußen waren bereits alle Menschen vor dem Gesetz gleich – auch der König. Die Rechtsprechung war unabhängig. Viele Jahrzehnte später konnte Theodor Fontane in seinem Roman „Der Stechlin“ einen Offizier mit Recht sagen lassen: „Die wirklich Vornehmen gehorchen nicht einem Machthaber, sondern dem Gefühl der Pflicht.“ Ausgehend von der Albertina wurde in Königsberg am Ende des 18. Jahrhunderts leidenschaftlich für Freiheit und Menschenwürde gefochten. Maßgeblich beteiligt waren das höhere Beamtentum Ostpreußens und der einheimische Adel, geistig geprägt von Königsbergs größtem Sohn Immanuel Kant.
Friedrich Leopold von Schrötter war am Ende des 18. Jahrhunderts Minister für Ost- und Westpreußen und Anhänger der freien Wirtschaftslehre von Adam Smith. Eine freie Wirtschaft setzt eine persönliche Freiheit und eine rechtliche Gleichstellung aller Staatsbürger voraus. Über Erlasse wurden die Befugnisse der Landesbehörden klar abgegrenzt. Insbesondere Justiz und Verwaltung wurden vollständig und scharf getrennt. Reformen wurden veranlasst, die 1804 in Ostpreußen griffen und mit Verordnung vom 26. Dezember 1808 auf ganz Preußen ausgedehnt wurden. Parallel dazu erließ Friedrich Leopold von Schrötter 1796 eine durchgreifende Agrarreform. An die Stelle der Erbuntertänigkeit der Bauern trat die Erbpacht und die Förderung selbstständiger Bauernhöfe. Es war nichts anderes als die Bauernbefreiung, die Immanuel Kant bereits angemahnt hatte, als er die Erbuntertänigkeit als „Absurdität“ bezeichnete, als „Sünde des Despotismus“. Zunächst auf den Staatsgütern greifend, zog der Adel um 1806/1807 auf seinen Gütern nach. Die katastrophale Niederlage Preußens gegen den Eroberer Napoleon zeigte schlagartig auf, welch ein Reformbedarf sich aufgestaut hatte. Und wieder waren es die Brüder von Schrötter, die am 17. August 1807 dem Kabinett eine Vorlage zur Agrarreform einbrachten. Es war ein „ganz großer Wurf“: Bauernfreiheit, Gewerbefreiheit, Aufhebung des Zunftzwangs und der Standesgrenzen in der Wirtschaft. Eine geniale Denkschrift, die Vorlage wurde für das staatliche Edikt vom 9. Oktober 1807. Hier wurde nicht nur die Bauernbefreiung bestätigt, sondern auch die Freiheit des Güterverkehrs und die freie Wahl des Gewerbes garantiert.
Eine Fußnote aus dieser Epoche fand Jahre später Eingang in die volksschulische Bildung: der Schrötteratlas! Zwischen 1796 und 1802 veranlasste Friedrich Leopold von Schrötter eine Landesaufnahme. Und ein bemerkenswertes Detail wurde offengelegt: Preußen war tatsächlich kleiner als bis dato angenommen: Von Ost nach West waren es 27 km weniger und von Nord nach Süd sogar 43 km. Die Qualität der Kartierungen dient bis heute als Referenz geographischer Bestimmungen.
Von dem Gut der Familie von Schrötter in Wohnsdorf existiert, soweit bekannt, keine Gesamtdarstellung. Lediglich vom Ende des 18. Jahrhunderts ist eine Zeichnung eines von Guise im Bildarchiv Ostpreußen überliefert. Der prominente Wohnturm allerdings wurde noch bis in das 20. Jahrhundert hinein genutzt. Er ist heute eine Ruine, doch immer noch eindrucksvoll in seinen Ausmaßen und eine Landmarke im Süden des Gebietes. Es bleibt zu hoffen, ihn eines Tages wieder nutzen zu können: nicht nur als kulturelles und geschichtliches Objekt, sondern auch zur Erinnerung an eine Reformbereitschaft, die vor 200 Jahren ein durch Kriegsverwüstungen am Boden liegendes Land in kürzester Zeit wieder zu einer neuen Blüte brachte.
Jörn Pekrul