Brennende Kerzen auf dem Sockel des Mahnmals, das in Jantarny von der jüdischen Gemeinde Kaliningrad im Jahr 2011 eingeweiht wurde. Foto: I.S.

Der Todesmarsch von Palmnicken: Forschung geht weiter

Seit Anfang dieses Jahres gibt es an der Fernuniversität Hagen das Dissertationsprojekt „Der Todesmarsch von Palmnicken: Mikrogeschichtliche Annäherung an eine Gewalterfahrung im 20. Jahrhundert und ihre Aufarbeitung in transnationaler Perspektive“.

Dr. Claudia Vollmer, die das Thema bearbeitet, wird durch ein Forschungsstipendium des Deutschen Historischen Instituts in Warschau gefördert. Im Juli 2021 war sie für Recherchen im Gebietsarchiv Kaliningrad. Sie berichtet, wie sie auf das Thema aufmerksam geworden war, und was das Ziel der Arbeit ist:

– Zum ersten Mal hörte ich vom Todesmarsch und vom Massaker von Palmnicken, als ich Ende 2008 für zwei Monate als Lektorin für den „Königsberger Express“ und Teilnehmerin eines Russischkurses in Kaliningrad war. An einem Wochenende im November fuhr ich mit meiner kleinen Gruppe Sprachlernender durch das Kaliningrader Gebiet. Auch in Jantarny machten wir eine kurze Teepause und stiegen dann die Treppe an der Steilküste hinunter zum Strand. Dort erzählte unsere Reiseführerin eher nebenbei, dass hier am Ende des Zweiten Weltkrieges dreitausend jüdische Frauen von SS-Bewachern in die Ostsee getrieben und erschossen worden waren.

Das war eine sehr unwirkliche Vorstellung für mich. Es gab dort einen breiten Sandstrand, aber nichts, was an solch ein Verbrechen erinnerte (das erste Denkmal wurde von der jüdischen Gemeinde Kaliningrad im Jahr 2011 eingeweiht). Auch dachte ich, dass ich von den schrecklichen Ereignissen hätte Kenntnis haben müssen. Eine kurze Internet-Recherche ergab dann erste Hinweise auf den Todesmarsch und das Massaker von Palmnicken. Ende Januar 1945 waren ca. 5.000 vor allem jüdische Frauen, Zwangsarbeiterinnen aus Polen, Ungarn und dem Baltikum, von ostpreußischen Außenlagern des KZ Stutthof bei Danzig von deutscher SS und ihren Helfern aus unterschiedlichen Ländern erst nach Königsberg und weiter nach Palmnicken getrieben worden. Dort kamen ca. 3.000 Menschen an, die bei Eiseskälte in die zufrierende Ostsee gehetzt und von den Wachmannschaften erschossen wurden.

Ich nahm mir vor, die Forschung zum Geschehen genauer zu untersuchen, sobald ich mehr Zeit hätte. Beruflich sehr eingebunden, kam ich erst im Jahr 2019 dazu, die Materialien zum Todesmarsch und dem Massaker in Palmnicken zu sichten. Es zeigte sich, dass es außer einem Zeitzeugenbericht, einem Überlebendenbericht und einzelnen wissenschaftlichen Erwähnungen zwar auch einige populärwissenschaftliche Informationen und Veröffentlichungen gab, aber keine weitergehende historische Forschung und Einordnung, was mich angesichts der Dichte von wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur NS-Zeit überraschte.

Nach mehreren Treffen 2019 mit Martin Bergau, einem ehemaligen Einwohner und Hitler-Jungen aus Palmnicken (verstorben im Januar 2020), der mit seinen Veröffentlichungen ab Mitte der 1990er Jahre das NS-Endphasen-Verbrechen von Palmnicken bekannter machte, entschied ich mich zu einer vertiefenden Arbeit zum Geschehen. Daraus ist inzwischen das Dissertationsprojekt an der Fernuniversität Hagen geworden, derzeit mit Forschungsstipendium des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Archivaufenthalte in Kaliningrad und Moskau sowie in Polen und Deutschland machen deutlich, dass noch weitere Einzelheiten des Verbrechens, das in groben Zügen bekannt ist, aus den vorhandenen Dokumenten rekonstruiert werden können.

Auch die Nachgeschichte, das heißt die juristische Aufarbeitung und das Erinnern an das Geschehen mit Fokus auf Deutschland, Polen und Russland, soll neue Erkenntnisse zum Todesmarsch und Massaker von Palmnicken ermöglichen. Ebenso ist die Frage wichtig, wie dieses NS-Verbrechen in der Öffentlichkeit und der Wissenschaft bis Mitte der 1990er Jahre quasi unbekannt bleiben konnte. Schon jetzt ist klar, dass es weitere Aspekte des Tatgeschehens gibt, für die eine weiterführende Forschung, über meine Beschäftigung hinaus, nötig sein wird. So sind zum Beispiel die näheren Umstände der Einbindung der multinationalen Helfer der deutschen Täter noch weitgehend unbekannt.

Ich stehe noch am Anfang meiner Forschung, habe aber in den online gestellten Dokumenten der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel weitere Namen von in Palmnicken Ermordeten gefunden. Die Angaben waren dort von Überlebenden hinterlegt worden. Diese Unterlagen mit fünf Namen von weiteren Opfern in Palmnicken übermittelte ich letztes Jahr an die jüdische Gemeinde in Kaliningrad, die die Namen auf dem Gedenkstein neben dem Mahnmal in Jantarny angebracht hat.

Claudia Vollmer