Kanaldeckel „Königsberg i. Pr. – Danzig“ im heutigen Kaliningrad. Foto: Autor

Zwischen Ober- und Unterwelt: die Kanaldeckel

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner zehnten Wanderung begleiten.

Teil 10 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-3-4-5-6-7/2021

Im Sommer bietet sich den Kaliningradern zuweilen ein merkwürdiges Bild. In der Reisesaison gehen auswärtige Besucher gesenkten Hauptes durch die Stadt. Dabei sehen sie nicht wirklich unglücklich aus, zumal es in dieser gastfreundlichen Stadt auch keinen Grund dafür gibt. Und richtig: Der gebeugte Gang lässt eine Konzentration erkennen, die sich nach kurzer Zeit in ein beglückendes Lächeln verwandelt. Etwas muss auf dem Boden gefunden worden sein, doch es wird nicht aufgehoben.

Des Rätsels Lösung liegt etwa 100 Jahre zurück und erzählt eine Stadtgeschichte der besonderen Art: Es sind die Kanaldeckel, die sich in Kaliningrad in einer unglaublichen Vielfalt entdecken lassen. Einer befindet sich an der früheren Gehörlosenanstalt, die wir im letzten Wanderungsabschnitt besuchten. „Königsberg Danzig“ ist darauf zu lesen, und „Viktoria Giesserei“. Nehmen wir diesen Fund zum Anlass für einen kleinen Exkurs über die Wasserversorgung in Königsberg und ihre gusseisernen Zeugen.

Im frühen 19.  Jahrhundert wurden natürliche Quellen im Westen der Stadt genutzt, um das Wasser zu sammeln (in der Umgebung von Sternwarte und Ausfalltor) und durch ein Röhrensystem auf die Brunnen der Stadt zu verteilen. 1840 gab es 116 öffentliche Brunnen. 1874 wurde das Wasserwerk in Hardershof gebaut. Das Wasser wurde aus verschiedenen Teichen gewonnen, die aus einem schon zur Ordenszeit geschickt angelegten System von Kanälen verbunden waren und vor allem den Oberteich speisten.

Der „Wirrgraben“ im Norden und der „Landgraben“ im Westen nahmen das Wasser auf, das über eine Eisenrohrleitung in die Verteilungsbehälter im Werk Hardershof gelangte. Dort floss das Wasser durch das natürliche Gefälle in das Rohrnetz der Stadt ein. 1879 wurde die Anlage durch ein Dampfpumpwerk ergänzt. Weitere Ausbauten in den Jahren 1895 und 1930 machten Königsberg zu einer Stadt, deren Trinkwasserversorgung damals zu den besten in ganz Deutschland gehörte.

Und da sehen wir auch schon den nächsten Deckel von der Firma „Waggonfabrik L. Steinfurt A.-G.“, gegründet von Benjamin Leopold Steinfurt (1804–1864). Die Firma befand sich in Rathshof und war einer der größten Arbeitgeber der Stadt, der auch sozial verantwortungsvoll handelte.  Wir hörten bereits auf unserer Wanderung in Ausgabe 12/2020, dass der damalige Inhaber Dr. h. c. Felix Heumann mit der Gartenstadt Rathshof um 1907 günstige und gesunde Wohnräume für seine Arbeiter und Angestellten schuf.

Es folgt ein Deckel der Firma „Franz Mosenthin Leipzig-Eutritsch“, die 1864 in diesem damals nördlich von Leipzig gelegenen Dorf gegründet wurde. Die richtige Schreibweise ist übrigens Eutritzsch; man darf überlegen, warum das „z“ ausgelassen wurde. Vielleicht der Marktgängigkeit halber? Hier fällt auf, dass ein Teil des Deckels in Beton gegossen wurde – eine Maßnahme, die die Herstellung im Krieg günstiger machte und auch den Metallverbrauch reduzierte. Also nicht nur mit dem Wasser, auch mit den Materialien wurde unter den Anforderungen der jeweiligen Zeit sparsam umgegangen.  Ein schönes Motiv über das Wasser zeigt eine moderne Kaliningrader Arbeit an einem Brunnen in der Nähe des Puppentheaters an der Luisenkirche.

Und in Amalienau verblüfft ein Kanaldeckel aus dem fernen Pasewalk in Vorpommern. Hergestellt von der Firma „H. Behrendt“. Das „H.“ steht für Hirsch – der Name des Vaters des Fabrikgründers Paul Behrendt (1860–1939). Der Sohn Paul war als Stadtrat, Mitbegründer der örtlichen Sparkasse und Besitzer einer Eisengießerei ein hochgeachteter Bürger der Stadt. Die Gullydeckel von H. Behrendt wurden in Pasewalk, Demmin, Berlin und Stettin genutzt, wo sie heute noch zu finden sind. Und in Königsberg! Doch das Leben von Behrendt endete tragisch. Er war Deutscher jüdischer Konfession und die Aufträge gingen ab 1933 zurück. 1934 musste die Firma schließen. Er zog nach Berlin, wo er und später Frau und Tochter starben. Im Gedenken an diese Familie sei innegehalten. Ähnliche Kanaldeckel wie Behrendt wurden übrigens auch von der Firma des Rudolf Wermke (1842–1897) aus dem nahen Heiligenbeil hergestellt. Als Sohn eines Schmiedemeisters fing er mit einer kleinen Pflugschmiede an. Er ersetzte dabei die Holzanteile eines Pfluges durch Eisen und Stahl – Grundstock für eine Landmaschinenfabrik, die mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde. „Pflugbauer des Ostens“ – so wurde er damals genannt.

Es gäbe noch so manche aufregende Entdeckung auf dem Boden der Stadt zu machen: Kanaldeckel der Union-Gießerei, der Odin-Werke oder der Vereinigten Armaturen-Gesellschaft Mannheim. Doch auch die Kaliningrader Gegenwart beeindruckt mit kunstvoll gestalteten Abdeckungen.

Das Exemplar zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018 erinnert an die schwungvollen Wochen in jenem Jahr, weltmeisterlich organisiert von der Stadt, die ihre Besucher zu begeistern verstand.

Und dann entdeckte ich kürzlich am Brandenburger Tor den russischen Doppelkopfadler. In einer kunstvollen Gestaltung trägt er das Stadtwappen des alten Königsbergs vor sich her – eine filigrane Symbiose, die zu manchen Betrachtungen einlädt. Beeindruckend auch ein alter Hydrant, der an der Feuerwache Ost in der Yorckstraße steht. Gearbeitet in der Form eines maritimen Fabelwesens, ist er jederzeit bereit, die Stadt zu schützen. Ein Fabelwesen braucht irdische Helfer, und so wird die Feuerwache auch heute noch genutzt. Die Königsberger Berufsfeuerwehr wurde 1856 gegründet. Um 1900 wurden mehrere Wachen wie diese in den Wohnvierteln gebaut – eine schnelle Hilfe vor Ort. Hier sind die Einstellplätze 5 m breit und 18 m lang; darüber liegen Wohnungen. Und wir sehen, wie der Feuerwehrmann mit atemberaubendem Geschick das Löschfahrzeug in die historischen Einstellplätze bugsiert. Momente im Alltag, die auf die Bedeutung der öffentlichen Daseinsvorsorge hinweisen. Lob und Dank an sie alle. In dieser Stimmung wollen wir weiter die vielen interessanten Besonderheiten dieser außergewöhnlichen Stadt entdecken.                

Jörn Pekrul