Ehemalige Gehörlosenanstalt in der Schleiermacherstraße, heute uliza Borsowa. Foto: Maria Fetissowa

Eine Welt der Stille

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner neunten Wanderung begleiten.

Teil 9 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-3-4-5-6/2021

Für den nächsten Wanderungsabschnitt gehen wir über den Körnerplatz zurück zur Krausallee (heute Kaschtanowaja alleja). Zur Rechten ein Sportplatz, zur Linken die Geräusche des Schulhofes. Wir treffen auf ein beeindruckendes Gebäude, in dem sich früher das „Taubstummenheim  Ostpreußen e. V.“ befand.

Die Heimstatt der Gehörlosen in Königsberg in der Krausallee 69, vor der wir nun stehen, wird heute als SCHILI-Lyzeum genutzt. Ein renovierter Bau mit freundlich-gelber Außenfassade und weißen Fensterrahmen. Das Haus wurde um 1910 von dem Architekten Emil Reinhold Arndt geschaffen. In Königsberg gab es zwei Häuser für Gehörlose. Da war zum einen dieses Heim, das zu Wohnzwecken und teilweise zu Unterrichtszwecken diente. Zum anderen bestand daneben die Gehörlosenanstalt, die als Schule fungierte. 

Diese räumliche Nähe existierte nicht immer so. 1817 wurde die erste Gehörlosenanstalt, damals noch als „Königliche Taubstummenanstalt zu Königsberg“, am Friedländer Torplatz Nr. 4 (heute uliza Dzerschinskogo) errichtet. Am 1. Oktober 1819 zog die Anstalt in den Hinterroßgarten Nr. 33 (heute uliza Klinitscheskaja). Das liegt schon nördlich des Pregels; und zwar in etwa auf der Höhe am Schlossteich, wo viele Jahre später das Gebietskrankenhaus errichtet wurde.

Bereits ein Jahr später, 1820, wurde ein Gebäude in der Wilhelmstraße Nr. 3 (uliza Pionerskaja) zur Miete bezogen.  Das lag nur etwas mehr als einen Steinwurf entfernt im Bereich „Neue Sorge“. Der Pädagoge Reinhold Ferdinand Neumann (1789–1833) unterrichtete hier sehr erfolgreich nach der „deutschen Methode“.

1833 bezog die Gehörlosenanstalt endlich ein eigenes Gebäude am Waisenhausplatz Nr. 3 im Sackheim. Dieser Teil der Stadt sollte Heimstatt für verschiedene soziale Einrichtungen werden. Das Königliche Waisenhaus war hier bereits seit 1703 ansässig, und auch das Siechenhaus, das Löbenicht’sche Hospital und das Johannesstift mit seinen heute noch sichtbaren markanten Dachgauben hatten hier ihre Adressen.

Übrigens bekam das Haus in der Wilhelmstraße Nr. 3 zu einem späteren Zeitpunkt der Stadtgeschichte noch einmal eine kulturelle Bedeutung. Hier wohnte ab 1903 der Kunstmaler Wilhelm Eisenblätter (1866–1934) aus Duisburg. In Berlin arbeitete er ab 1882 als Bühnenmaler und kam 1898 an das renommierte Stadttheater Königsberg. Eisenblätter schuf hier spektakuläre Bühnenbilder in einer bisher nicht bekannten Intensität. Er entwickelte sich zum Landschaftsmaler. Später kamen noch Wandbilder hinzu, von denen einige im Börsenkeller hingen oder im „Berliner Hof“ am Steindamm.

Wir sehen an diesem kleinen Exkurs, wie vielschichtig die Geschichte der Stadt ist. Jeder Faden, der aufgenommen wird, führt zu einer weiteren, spannenden Entdeckung.

Die Einrichtungen für die Gehörlosen entwickelten sich weiter. Am 8. Juli 1875 wurde in Preußen der Provinzialverband geschaffen. Dies war eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die im Rang über den Kommunen stand. Der Verband regelte Angelegenheiten des Verkehrswesens, der Wirtschaft, der sozialen Volksfürsorge und der Kultur. So wurde u. a. auch die „Königliche Taubstummenanstalt zu Königsberg“ übernommen. 1905 weist der Stadtplan die Anstalt auf dem Unterhaberberg aus, also weit in der Vorstadt.

Doch all diese wechselnden Adressen führten 1911 zu einem Ende. Es war die Zeit, in der die Stadt Königsberg wuchs. Die Festungsanlagen wurden aufgelassen und es entstanden Grünflächen für die Stadtbevölkerung.

Die Stadtteile Maraunenhof und Amalienau wurden gegründet. Und auch die Gehörlosen erhielten nun einen großen Neubau in der Schleiermacherstraße Nr. 62–63. Dieses Gebäude erreichen wir, wenn wir die Krausallee weiter nach Norden gehen und dann nach rechts abbiegen.

An der Kreuzung befand sich früher übrigens auch ein Heim für Obdachlose, das heute nicht mehr existiert. Und da kommt auch schon das Gebäude der Gehörlosenanstalt von 1911 in Sicht. Sein Giebel thront hoch über den entlang der Straße befindlichen stattlichen Bäumen. Neben der Gehörlosenschule waren hier noch ein Kindergarten und ein Büro untergebracht, dazu Wohnungen für den Wirtschafter, den Hausmeister und den Anstaltsgärtner. Das Haus hat die Kriegs- und Nachkriegsereignisse gut überstanden, und auch der imposante Eingang ist erhalten. Heute wird das Gebäude unterschiedlich genutzt.

Das Gehörlosenwesen hat in Königsberg eine interessante Geschichte. Es soll uns ermuntern, Menschen mit Behinderungen in unserer Umgebung auf Augenhöhe zu begegnen. Sie verfügen oft über besondere Talente in der Wahrnehmung der Welt und der Bewältigung des Alltags. Es ist lohnend, eine Begegnung zu suchen und sich auf diese Erfahrungen einzulassen.

Und auch eine erheiternde Entdeckung sei dabei, mit der wir unsere heutige Wanderung beschließen wollen: In manchen Gebärdensprachen wird der Begriff „deutsch“ mit einer Pickelhaube dargestellt. Es heißt, dass die Pickelhaube 1842 nach einem Besuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. in Russland entstand. Auf dem Tisch des Zaren habe ein Vorgängermodell gestanden, das den König begeisterte. Er führte sie umgehend in Preußen ein. Dabei hatte der „Pickel“, diese metallene Spitze auf dem Helm, durchaus einen Sinn: Er sollte Hiebe mit Säbeln oder ähnlichen Handwaffen seitlich ablenken.  Auch konnten herabfallende Trümmer oder eine verschlossene Tür mit dem Pickel gebrochen werden.

Die Pickelhaube wurde fortan mit Deutschland verknüpft – in der Propaganda, im Volksmund, in spöttischen Karikaturen über die Deutschen, bis hin zur populären Variante im 21. Jahrhundert. Sie wird heute gerne als Fan-Accessoire aus Kunststoff bei Fußballspielen getragen – eine Selbstironie, die man den Deutschen lange Zeit nicht zugetraut hatte.

Eine interessante Entdeckung, die einmal mehr zeigt: Es lohnt sich, vorgefasste Stereotype von Zeit zu Zeit zu überprüfen und sich der Gegenwart mit freundlichem Interesse zu nähern.

Jörn Pekrul