Auf der Burg
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner achten Wanderung begleiten.
Teil 8 der „Königsberger Wanderung“. Fortsetzung aus KE 11–12/2020, 1–3–4–5/2021
Kennen Sie Lochstädt? Ein kleiner Flecken, der sich ca. 7 km nördlich von Pillau befindet; etwa dort, wo das Frische Haff in das Samland übergeht. Die Landschaft ist von Wald umgeben, und eine Autostraße sowie eine Bahnlinie erschließen diesen Teil der Nehrung. Das war nicht immer so. Zur frühen Ordenszeit, am Ende des 13. Jahrhunderts, befand sich hier eine Fahrrinne. Sie ermöglichte den Schiffsverkehr zwischen der Ostsee und dem Frischen Haff und wurde nach dem Dorf benannt, in dessen Nähe es lag: das Lochstädter Tief. Doch auch Dorf Lochstädt hatte zu dieser Zeit schon eine Namensänderung hinter sich. Im 9. Jahrhundert wurde diese Siedlung Witland genannt, und es war ein edler Herr der Prußen aus diesem Ort mit Namen Laukstyte, der um heute nicht mehr näher bekannter Verdienste willen die Ehre des neuen Dorfnamens bekam. Der Name passte auch zur Umgebung: In der prußischen Sprache ist eine „laukstits“ Wasser, das im Glanz der Sonne funkelt.
Und schon sind wir mittendrin in der prußischen Geschichte und der Ordenszeit. Sie wird uns auf der heutigen Wanderung begleiten, denn wir werden ihr gleich näher im Heute begegnen. Das Lochstädter Tief war ein strategisch wichtiger Punkt, und so dauerte es nicht lange, bis eine Burg hochgezogen wurde: die Burg Lochstädt. Bis 1270 als Anlage aus Holz und dann von 1275 bis 1285 ein Bau aus Stein. Eine typische Ordensburg mit gotisch gewölbten Räumen, einer Kapelle und natürlich dem Remter: dem „Ort der Erquickung“, in dem die Brüder im Regelfalle auch die Mahlzeiten einnahmen. Eine Besonderheit in der Burg Lochstädt war ein Amt, das dem Bernsteinmeister zustand. Hier wurde bis zum Ende der Ordenszeit das Bernsteinregal verwaltet, also das Hoheitsrecht des Deutschen Ordens zum Handel mit Bernstein.
Es gab ähnliche Regalrechte schon in Westpreußen und in Pommern, die dort auch von den frühen polnischen Königen ausgeübt wurden. Im Prußenland war es der Deutsche Orden, der die Erlaubnis zum Sammeln von Bernstein vergab, wobei er sich ein Vorkaufsrecht zum Ankauf vorbehielt. Fischer, die das Recht zum Bernsteinfischen bekamen, waren verpflichtet, den Bernstein in dazu legitimierten Sammelstellen wie der Burg Lochstädt abzuliefern. Ähnliche Regeln haben sich bis in die Neuzeit erhalten. Eine Schulfibel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt von dem Ausflug einer Mädchenklasse nach Rauschen, wo die jungen Elevinnen am Strand nach Bernstein suchen. Die Lehrerin mahnt: „Aber große Stücke muss man abliefern. Die darf man nicht behalten. Daraus machen sie in Königsberg Ketten und Ringe und allerlei andere Schmuckstücke.“
Das Bernsteinregal wurde noch auf der Burg Lochstädt verwaltet, als die Burg schon längst ihre militärische Bedeutung verloren hatte. In der Nähe – ebenfalls am Ufer des Frischen Haffes – wurde die Bischofsburg Schönewik gebaut, aus der später die Ortschaft Fischhausen entstand. Im Jahre 1311 schließlich versandete das Lochstädter Tief nach einer Sturmflut völlig und es bildete sich weiter südlich, gegenüber der Burg Balga, eine neue Fahrrinne. Hier entstand später der Ort Pillau. Die Besitzverhältnisse und die Nutzung der Burg Lochstädt wechselten mehrfach, auch trug das Bauwerk manchen Schaden davon. Doch die Burg blieb bis zu ihrem Verschwinden in den Jahren nach 1945 eine markante Erscheinung am Beginn der Frischen Nehrung. Der Künstler Conrad Steinbrecht (1849–1923) schuf eine Zeichnung, die uns heute noch eine Vorstellung von der Burg Lochstädt gibt.
Und wenn wir auf unserem Wanderwege in Mittelhufen die Gneisenaustraße (heute uliza Bankowskaja) entlanggehen bis zu der Stelle, an der sie auf den Landgraben mündet, dann lohnt es sich, einen Blick zurückzuwerfen. Hier steht sie vor uns: Burg Lochstädt. Oder sind wir einer Täuschung der Sinne erlegen? Es stimmt alles: der Turm, die massiven Flügel, die Bauweise. Und doch ist es ein nachempfundenes Bauwerk: die Burgschule, das heutige Gymnasium Nr. 1 in Kaliningrad. Die Schule hat selbst eine Geschichte, die ihres architektonischen Vorbildes durchaus würdig ist. 1664 aus einer Schenkung des Großen Kurfürsten an die reformierte Kirchengemeinde entstanden, wurde sie 1813 zu einer Höheren Bürgerschule. Die bis dato „Reformierte lateinische Parochialschule“, „reformierte Lateinschule“ oder „Deutsch-reformierte Schule“ genannte Bildungsanstalt hatte zu dieser Zeit schon mehrheitlich lutherische Lehrer und Schüler.
Ab 1819 hieß sie „Burgschule“ und wurde 1902 zur „Königlichen Oberrealschule auf der Burg“. Als Schule für Jungen entwickelte sich die Burgschule zu einer der besten und renommiertesten Schulen in der Provinz Ostpreußen. Zuletzt im engen Burgbezirk von Königsberg gelegen, musste Anfang des 20. Jahrhunderts ein Neubau her, der genügend Licht und Luft und Raum bot. Als Ort wurde Mittelhufen bestimmt; der Platz, an dem wir jetzt stehen. 1926, in einer Zeit knapper Mittel, begann der Bau, und schon am 1. November 1927 konnte die neue Burgschule bezogen werden. Und man schaffte es, bei aller gebotenen Sparsamkeit ein Gebäude zu errichten, das sich in die Umgebung einfügte und die Tradition der alten Ordensburgen wieder aufnahm. Da wären zuerst die Baustoffe zu erwähnen: ein Sockel aus grauem Granit, dann rote Backsteine, und für den Abschluss die typischen ostpreußischen Dachpfannen. Der Turm als Reminiszenz an Lochstädt, der hier eine Verbindung darstellt zwischen dem Hauptbau, der nach Süden verläuft, und dem nach Osten ausgerichteten Seitenflügel. Die Plattform des Turmes wurde früher für astronomische Beobachtungen vorgesehen. Vor der Direktorenwohnung wird der Balkon von mächtigen Säulen getragen; auch dies ein bauliches Detail, das an das frühe Mittelalter erinnert.
Sehr reizvoll sind an der Fassade einzelne Ziegelsteine, die in einer Anordnung nach vorne geschoben sind und im Gesamtblick ein Rautenmuster ergeben, das an so vielen Gebäuden in Königsberg zu sehen ist (z. B. am früheren Postamt Nr. V am Hauptbahnhof oder an dem Arbeiterwohnhaus gegenüber dem Sackheimer Tor, an der Ecke zum Litauer Wall). Das Rautenmuster ist ein Ornament, das aus der Kultur der Prußen stammt und auch in die ostpreußische Volkskunst eingeflossen ist, so z. B. in das Muster der ostpreußischen Tracht.
Der Höhepunkt an der Burgschule ist aber ein anderer. Und der existierte über Jahrzehnte nur noch in der Erinnerung, denn diese Kostbarkeiten gingen in den Wirren des Krieges unter. Es handelt sich um die Portraits von vier großen ostpreußischen Persönlichkeiten: Niklas Koppernigk genannt Nikolaus Kopernikus, Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Lovis Corinth. Jeder von ihnen stand für eine unterschiedliche Disziplin im Ringen um Wissen und Entwicklung und blickte gemeinsam mit den anderen auf die Schüler, als wollte man diesen Anregungen auf dem Weg ins Leben mitgeben. Es ist eine der wunderbarsten Geschichten, die sich erst im letzten Jahr zugetragen hat. Der russische Unternehmer Pawel Naumow, der ebenfalls auf diese Schule ging, und der Künstler Andrej Schewzow initiierten und verwirklichten eine Wiederherstellung dieser durch die Kriegsereignisse zerstörten Portraits.
Bei den Vorlagen der Köpfe konnte die Stadtgemeinschaft Königsberg (Pr) behilflich sein, und ein Vergleich mit historischen Fotos der ursprünglichen Abbilder, geschaffen durch den Königsberger Bildhauer Wilhelm Ernst Ehrich, zeigt, dass diese damals aus Muschelkalk gefertigten Büsten den heutigen Nachbildungen verblüffend ähnlich sind. Sie sind tatsächlich wiedererstanden.
Für Kaliningrad und für diese Schule sind die Portraits von Kopernikus, Kant, Herder und Corinth nicht nur eine äußere Zierde. Das Werk, das uns diese Persönlichkeiten hinterlassen haben, hat den nationalen Rahmen ihrer jeweiligen Zeit längst verlassen und ist ein Teil des großen Weltwissens geworden, an dem alle tätigen Menschen partizipieren können.
Die Königsberger, die noch unter uns sind, haben die Wiedererrichtung mit großer innerer Bewegung, Anteilnahme und Dankbarkeit aufgenommen. Es wurde ein gedankliches Band geknüpft, das die Bewohner der alten und der neuen Stadt im Sinne dieser vier Persönlichkeiten verbunden hat. Und das ist, denke ich, die schönste Wirkung, die das von Menschen hinterlassene Werk stiften kann. Im Dank an Herrn Naumow, Herrn Schewzow und all die anderen beteiligten Helferinnen und Helfer in der heutigen Stadt, die diese Wiedererrichtung wahr werden ließen.
Jörn Pekrul