Ornamente an einem Haus in der ehemaligen Luisenallee. Foto: Jörn Pekrul

In Mittelhufen

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun auf seiner siebenten Wanderung begleiten.

Teil 7 der „Königsberger Wanderung“ (Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-3-4/2021)

Mit dem Verlassen des Herkules von Stanislaus Cauer sind wir schon mehreren seiner Kunstwerke in der Stadt begegnet. Höchste Zeit, ihm zu Beginn eine persönliche Reverenz zu erweisen. Er ist einer der bekanntesten Bildhauer Königsbergs. Geboren am 18. Oktober 1867 im rheinland-pfälzischen Bad Kreuznach als Spross einer hochangesehenen und weitbekannten Familie von Bildhauern, lernte er ab 1882 in Rom. 1905 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde 1907 an die Kunstakademie in Königsberg berufen. Dort arbeitete er bis 1941 und hatte durch seine fachliche Kompetenz einen großen Einfluss auf die nachfolgenden Künstlergenerationen. Seine Kunstauffassung war, wie er selbst sagte, geprägt von einer lyrisch-romantischen Veranlagung als Erbe seines Vaters und den Eindrücken der Kunst, die er in Rom gewonnen hatte. Als er 1943 starb und in Juditten beigesetzt wurde (sein Grab ist leider nicht erhalten), hinterließ er dem Bildhauer Arthur Steiner (1885–1960), von dem wir heute noch hören werden, seine Werkstatt.

Wir verlassen Amalienau und erreichen Mittelhufen, das wir schon kurz mit der Betrachtung des sparsamen Paares und der jungen Frau in der Stägemannstraße 34–36 (KE 12/2020) gestreift hatten. Mittelhufen ist ein sehr junger Stadtteil von Königsberg. Als Friedrich Leopold von Schrötter (1743–1815) im Jahre 1803 seine Vermessung Ost- und Westpreußens abgeschlossen und veröffentlicht hatte, verzeichnete das vor uns liegende Gebiet noch Wiesen und Wälder. Eine Hufe ist ein Flächenmaß für ein Grundstück, das einer Bauernfamilie ein Auskommen ermöglichte. War der Boden gut und ausreichend, war diese Fläche kleiner. Bei einem schlechten Boden brauchte die Familie mehr Gelände; die Hufe war entsprechend größer. Insofern floss auch die Qualität des Bodens in die Flächengröße der jeweils lokalen Hufe ein.

Mittelhufen war ein Dorf, das 1905 nach Königsberg eingemeindet worden war und sich ständig weiterentwickelte. Der Wohnungsbedarf stieg, zumal nach dem Ersten Weltkrieg auch Menschen aus den laut Versailler Vertrag an Polen abgetretenen Gebieten in Königsberg Zuflucht suchten und fanden. Der Platz wurde mit dem Bau von Genossenschaftswohnhäusern geschaffen. Obwohl die Mittel knapp waren, verzeichneten einige davon sogar sehr schöne Kunst am Bau wie zum Beispiel die vorerwähnten Skulpturen. Und auch die Gebäude selbst wurden im hohen ästhetischen Anspruch ihrer Zeit errichtet.  Ein Beispiel dafür mag die Wohnanlage in der Jahnstraße (heute Pereulok Tschernyschewskogo) sein. Die einzelnen Häuser sind versetzt angeordnet, was nicht nur gefälliger im Straßenbild wirkte. Es konnten dadurch auch zusätzliche Fenster eingebaut werden. Die Fenster sind mit Rahmen aus Backsteinen umrahmt, was dem Baukörper Lebendigkeit und Abwechslung verleiht.   

Unser Weg führt in die Zeppelinstraße (Uliza Tschkalowa). An der Ecke zur Stägemannstraße (Uliza Tschernyschewskogo) befand sich vor dem Krieg eine Wohnanlage, die an der Straßenecke drei markante Spitzdächer hatte. Hier waren ein Frisiersalon für Damen und Herren und ein Kolonialwaren- und Delikatessengeschäft untergebracht. Davon ist heute nichts mehr erhalten. Die Zeppelinstraße wartet jedoch, trotz ihrer Randlage selbst im heutigen Kaliningrad, mit einigen noch sehr schön erhaltenen Altbauten auf. Im nördlichen Bereich kann man nach rechts abbiegen in die Einsteinstraße (Uliza Osipenko) und trifft dort auf eine Gebäudenachbarschaft von Alt und Neu, verbunden durch ein grünes Band von Sträuchern und Hecken. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Entwicklung von Mittelhufen, die im frühen 20. Jahrhundert mit dem Wohnungsbau für die kleinen und mittleren Einkommensschichten begonnen hatte, auch von Kaliningrad geschickt weitergeführt wurde. Der Name Zeppelinstraße mag übrigens damit zu tun haben, dass hier ganz in der Nähe die Luftschiffhalle von Königsberg gestanden hat. Sie befand sich auf dem damals freien Areal nördlich der Schleiermacherstraße (Uliza Borsowa), und zwar in etwa auf der Höhe von Hardershof, zwischen der Stresemannstraße (Sowetskij Prospekt) und der Krausallee (Kaschtanowaja Allee). Zu der historischen Ansicht erläutert das Bildarchiv Ostpreußen, dass das Dach der Halle aus zwei Quadratmeter großen Asbestziegeln bestand, die zudem 2 Zentimeter stark waren. Sie schützten nicht nur gegen Feuer, sondern konnten auch Wind und Wetter gut abhalten. An der Nordostseite waren die 36 Meter hohen Tore angebracht und boten für diese Giganten der Lüfte die beste Ausfahrt in das freie Samland.

Auf der Erde hingegen machte ein kleines Kunstwerk auf sich aufmerksam. Passanten, die ein Haus in der nördlichen Boyenstraße (heute Uliza Kommunalnaja 73) passierten, erblickten im Vordergarten einen Knaben, der sich liebevoll einer Katze widmete. So lebendig die Szene aussah, so war sie doch aus Muschelkalk geschaffen worden. Die Künstlerin, Liselotte Backschies, wurde am 12. Dezember 1910 in Allenstein geboren. 1918 kam sie nach Königsberg und war seit 1940 Schülerin des hiesigen Bildhauers Arthur Steiner. Er kam aus Gumbinnen und hatte sich mit autodidaktischen Fähigkeiten zu einem Maler und Bildhauer von Rang und Namen in Königsberg entwickelt. Nach Cauers Tod übernahm er, wie wir schon hörten, dessen Werkstatt. Liselotte Backschies absolvierte ein Semester an der Königsberger Kunstakademie und wurde dann Steiners Mitarbeiterin. 1951 heiratete das Paar. Die Skulptur „Knabe mit Katze“ schuf Liselotte vermutlich im Jahre 1943. Sie passte so gar nicht in den heroischen Stil der Zeit, sondern erinnerte eher an die biederen Darstellungen der deutschen Volkskunst in den späten 1920er Jahren. Nach dem Krieg verfiel die Skulptur zusehends. Der Kopf des Knaben war abgeschlagen, die Katze kaum noch als solche zu erkennen und auf dem kümmerlichen Rest hatte sich eine grüne Patina gebildet. Es ist dem Zentrum für Denkmalschutz in Kaliningrad zu danken, 2012 eine Restaurierung initiiert zu haben. Mit Hilfe von alten Fotos und Informationen, zu denen auch das Museum Königsberg in Duisburg beitragen konnte, entstanden „Knabe und Katze“ wieder. Und wer die heutige Straße entlanggeht und den Blick schweifen lässt, wird vielleicht erneut durch einen Zufall auf diese entzückende Szene aufmerksam, die einem ein Lächeln auf das Gesicht zaubert.

Liselotte Backschies und Arthur Steiner arbeiteten übrigens in Königsberg beruflich erfolgreich zusammen. Arthur Steiner schuf unter anderem den Orang-Utan, der heute wieder im Kaliningrader Zoo, dem Königsberger Tiergarten, zu sehen ist. Und beide kreierten die Stuckarbeiten für ein Haus, das auch im modernen Kaliningrad noch die Blicke auf sich zieht. In der Luisenallee  84–88 (Uliza Komsomolskaja) steht eine Wohnanlage der Stiftung für gemeinnützigen Wohnungsbau. Die Straßenseite ist mit kleinen Darstellungen verziert, die verschiedene Motive aus allen Bereichen des alltäglichen Lebens zeigen. Ein Mann, der auf einem Teller einige Früchte trägt. Zwei Vögel, die offensichtlich auf einer Pflanze nach Nahrung suchen. Ein Ornament mit Stern. Und ein Zirkuselefant, der auf einem Hocker steht. Kurze Momentaufnahmen, die ein Innehalten lohnen und dazu einladen, sich näher mit den gezeigten Werken zu befassen.

Jörn Pekrul