„Nur wer arbeitete, bekam auch zu essen“
Der dritte Teil unserer Reihe über die Zeitung für die deutschsprachige Bevölkerung des Kaliningrader Gebietes „Neue Zeit“ in den Jahren 1947–1948 ist dem Thema Arbeit gewidmet.
Der Aufruf zu arbeiten zieht sich wie ein roter Faden durch fast ausnahmslos alle Ausgaben der Zeitung, waren doch die Zerstörungen durch die Kriegseinwirkungen und Folgeereignisse im Gebiet immens. Die deutsche Bevölkerung wurde dringend für den Wiederaufbau benötigt, bis schließlich verstärkt ab 1947 Neusiedler aus anderen Regionen der Sowjetunion nachrückten und die Deutschen verdrängten.
Nur wer arbeitete, bekam auch zu essen – anfänglich 400 Gramm Brot, auf der Lebensmittelkarte der Mutter eingetragene Kinder 200 Gramm. Alte, kranke und schwache Menschen hatten oftmals das Nachsehen. Die Deutschen waren in Industrieunternehmen, in Militärsowchosen, bei den Truppenteilen und in der Forstwirtschaft eingesetzt. Ein großer Teil arbeitete auf Anordnung der Zivilverwaltung auf dem Feld, auf Baustellen oder in der Straßenreinigung. Des Weiteren gab es viele Ärzte und andere Fachkräfte unter der deutschen Bevölkerung. Auch die Postboten waren anfänglich fast alle Deutsche, nur sie kannten sich in Königsberg aus. Sie waren auch die ersten Wagenführer der 1946 wieder in Betrieb genommenen Straßenbahn. Die deutschen Frauen arbeiteten als Putzfrauen oder Kuriere, nähten oder waren Friseusen, Bademeisterinnen und Fahrkartenkontrolleurinnen. Interessant ist die Anfrage von Martha Kühn am 21. September 1947 bei der Redaktion der „Neuen Zeit“, ob eine Frau nach den sowjetischen Gesetzen arbeiten müsse oder sich vom Mann unterhalten lassen und ausschließlich die Hauswirtschaft erledigen könne. In der Antwort hieß es, dass es kein solches Gesetz gebe, aber die Frauen vollberechtigte Schöpferinnen der materiellen und geistigen Werte des Volkes und gleichberechtigte Partnerinnen seien und zum Beispiel mit Kinderbetreuungseinrichtungen und bezahltem Urlaub bei Schwangerschaft und Entbindung entsprechend unterstützt würden.
In der „Neuen Zeit“ können wir zahlreiche Berichte sowjetischer Fabrik- bzw. Kolchos- und Sowchos-Direktoren (landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften bzw. staatliche landwirtschaftliche Großbetriebe in der Sowjetunion – die Red.) über herausragende Leistungen der deutschen Arbeiter lesen. Diese wiederum schrieben auch selbst in Form von Leserbriefen über ihre Erfahrungen und Ergebnisse in der Produktion. Am 10. Juli 1947 wurde über den Monteur Kurt Klinge aus der Garnrollenfabrik berichtet, der regelmäßig das Dreifache der Norm erfülle, bis zu 2.500 Rubel verdiene und Verpflegung nach dem Höchstsatz für Arbeiter erhalte. Auch die Familie Samland arbeite in der Fabrik. Neben Max Samland und seiner Tochter Gertrud erfülle seine Enkelin Edith an der Werkbank der Blockmaschine die Norm mit mindestens 136 %. In der Flussschiffahrt Kaliningrads wurden am 27. Juli 1947 der Kapitän Emil Schmidt, der Mechaniker Franz Kurian, der Schleppkahn-Schiffer Kroll mit Tochter Margarete, die als Matrosin bei ihm arbeite, und die Brüder Blankenburg gelobt. Am 31. Juli 1947 stachen die deutschen Arbeiter Bruno Bastke, Otto Dubszus und Joseph Gebauer in der Fruchtsaftproduktion der Brauerei Tschernjachowsk hervor.
Doch auch Kritik wurde geübt. Die sowjetische Wirklichkeit habe nicht wenige deutsche Arbeiter von ihren verfehlten Anschauungen über die Technik und technische Normen befreit, schrieb die „Neue Zeit“ am 3. August 1947. Als Beispiel wurde die Produktion von Grütze im Kombinat für Mühlenfabrikate genannt, die von ursprünglich 25 Tonnen vor dem Krieg durch eine veränderte Getreidezufuhr mit Hilfe sowjetischer Fachleute auf sogar 70 Tonnen erhöht werden konnte. Auch wirke die Stachanow-Methode (nach dem Bergmann Alexej Stachanow benannte Methode zur Steigerung der Arbeitsproduktivität – die Red.) positiv, hieß es am 10. August 1947. In der Gasanstalt habe ein deutscher Schlosser erst nach Unterstützung durch einen sowjetischen Stachanow-Arbeiter die Normen erfüllt und übererfüllt.
Nicht wegzudenken waren die Deutschen auch aus der Landwirtschaft. Aus der Sowchose Nr. 9 im Dorf Kalinowka, ehemals Popelken, wurde am 11. September 1947 berichtet, dass der Schmied Otto Wassilei die Pflüge und Sämaschinen einwandfrei repariere und die Frauen der Feldbrigade G. Hinrich, G. Krause und Erna Krinke sowie die Melkerinnen Kirschnacher hervorragende Arbeit verrichteten, wofür es neben der regulären Entlohnung auch 600 Gramm Brot, eine warme Mahlzeit auf dem Feld sowie Hilfe bei der Reparatur der Wohnhäuser und Bereitstellung von Brennholz gebe.
Die Sowchosen Nr. 50, 52 und 133 des Kaliningrader Gebietes seien jedoch im Rückstand beim Einbringen des Sommergetreides, hieß es bereits am 10. August 1947. Grund dafür sei der schlecht organisierte Einsatz der deutschen Arbeiter und die mangelnde Nutzung der Erfahrung der führenden Arbeiter. Noch schlechter sehe es beim Dreschen aus. Von 10.000 Hektar abgeernteter Flächen seien bis zum 5. August nur 831 Hektar gedroschen worden.
Liebe Leserinnen und Leser, wenn auch Sie etwas über die Arbeit im damaligen Königsberg/Kaliningrad berichten können, freuen wir uns über Ihre Zuschriften.
Hier noch einige Zeitzeugnisse über die Arbeit der deutschen Bevölkerung in Königsberg/Kaliningrad aus Sicht der sowjetischen Neusiedler und Behörden:
„Wir waren immer verblüfft über ihre Pünktlichkeit. Sie fingen morgens um 9 Uhr an, keine Sekunde später, zum Mittagessen gingen sie pünktlich auf die Minute und konnten dabei sogar eine Schraube halb eingedreht stecken lassen.“ Michail Tschurkin, 1948 Arbeiter bei einer Wagenkolonne in Tschernjachowsk, in: Eckhard Matthes. Als Russe in Ostpreußen
„Sie kamen mit großen Säcken zur Arbeit. Da war alles Mögliche drin, sogar Bleirohre. Es waren Stuckateure, Ofensetzer, Installateure. Sie stellten ihr Werkzeug selbst her, wir konnten nur staunen. Und was für Malerpinsel sie von Hand gemacht haben! Unsere Maler haben sich bei ihnen dafür bedankt, sie beinahe auf Händen getragen. Aber natürlich waren sie nicht so schnell wie wir.“ Iwan Lyssenko über deutsche Bauarbeiter, in: Eckhard Matthes. Als Russe in Ostpreußen
„Bei den Truppenteilen arbeiten 10.797 Personen und in den Betrieben in der Stadt 7.157 Personen. Bei den Kreiskommandanturen der Stadt sind 2.999 Personen mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt und bei den Kommandanturen 2.606 Personen. Täglich sind im Schnitt insgesamt 23.559 Personen beschäftigt, was einem Anteil von 78 % der arbeitsfähigen Personen entspricht. Die tägliche Arbeitszeit beträgt 12 Stunden, zur Zeit wird von 8 Uhr morgens bis 7 Uhr abends, das heißt bis zum Einbruch der Dunkelheit, gearbeitet, freie Tage gibt es nicht.“ Aus dem Bericht der Verwaltung für zivile Angelegenheiten der Stadt Königsberg für November 1945, in: Eckhard Matthes. Als Russe in Ostpreußen
Alexandra Jelitte
Quellen: Eckhard Matthes. Als Russe in Ostpreußen. Sowjetische Neusiedler über ihren Neubeginn in Königsberg/Kaliningrad nach 1945, edition tertium, 1999;
„Neue Zeit“, 1947–1948.
Ausblick auf KE 05/2021: Der Deutsche Klub in Kaliningrad 1947–1948