Der Eingang zum Zentralfriedhof Kaliningrads, dem früheren II. Luisenfriedhof. Foto: Jörn Pekrul

Die Gottschedin

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner sechsten Wanderung begleiten.

Teil 6 der „Königsberger Wanderung“ (Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-3/2021)

„Ich sehe nicht ein, warum wir uns immer um die Männer oder gar um ihre Schlachten kümmern sollten – Die Geschichte der Frauen ist meist viel interessanter.“ Diese Worte lässt Theodor Fontane eine seiner Hauptfiguren in dem 1891 erschienenen Roman „Unwiederbringlich“ sagen. Und es stimmt, wenn wir eine Facette betrachten, die in Juditten ihre Wurzeln hat. Sichtbare Zeugnisse wie die wiederhergestellte Kirche, die wir in der letzten Folge verlassen haben, sind nicht mehr vorhanden. Doch ein Blick in die Archive führt uns auf die Spur. Somit sei der Versuchung widerstanden, am Ende des Juditter Kirchenweges in Gedanken die alte Straßenbahnlinie Nr. 7 zu nehmen, die früher über Amalienau, Tiergarten, Nordbahnhof, Paradeplatz, Mitteltragheim und Wrangelturm bis nach Maraunenhof führte.

Wir bleiben auf Wanderwegen und biegen nach links ab auf die Gottschedstraße, die auch zu einem gleichnamigen Platz führt. Und eine derart gewichtige Doppelbezeichnung macht neugierig. Sie führt zurück auf das Jahr 1700. In dieser Zeit lebte im Ort das Juditter Pastorenehepaar  Christoph Gottsched und seine Frau Anna Regina, geb. Biemann. Die Familie hatte bereits eine gewisse Prominenz, denn Verwandte waren im Staats- und Hofdienst tätig. Zudem hatte Pastor Johann Biemann, der Vater der Frau, 15 Jahre lang das Pfarramt bei der Festung Groß Friedrichsburg inne.

In diese Geisteswelt hinein wurde am 2. Februar 1700 der Sohn Johann Christoph Gottsched geboren, der Namensgeber unserer heutigen Wanderstraße und des Platzes. Mit 14 Jahren an der Albertina immatrikuliert, studierte er dort die Werke des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und des Vordenkers der Aufklärung, Christian Wolff. Der nüchterne Tenor dieser Schriften prägte seine philosophischen und literarischen Interessen.

1724 war Gottsched ein hochgewachsener junger Mann geworden und damit attraktiv für die Militär-Werber der preußischen Armee, worauf er nach Leipzig flüchtete. Dort wurde er in die literarische Welt eingeführt und publizierte verschiedene Periodika, mit denen er die deutsche Sprache zu reformieren suchte. Die barocken Manierismen galt es abzulösen durch eine dem Zeitalter der Aufklärung entsprechende Nüchternheit und Klarheit.

Im Zuge dieser Bestrebungen vertrat er die Auffassung, dass selbst die Poesie sich nachvollziehbaren Regeln zu unterwerfen habe. Jedwede Gefühlsregung lehnte er ab – eine Tendenz, die sich im Laufe seines Schaffens zu einer nahezu dogmatischen Strenge verhärtete. In diesem Furor entstanden außergewöhnliche Werke wie das ab 1757 veröffentlichte, aber unvollendet gebliebene Werk „Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst“. Es sollte alle Dramen der Jahre 1450 bis 1760 verzeichnen. Gleichwohl wird dieses Fragment bis heute als wichtiges Hilfsmittel für das Studium der Geschichte des deutschen Schauspiels genutzt. Daneben stellte Gottsched dem deutschen Publikum Werke aus der französischen und englischen Literatur vor.

Seine Stellung zu Lebzeiten und seinen Nachruhm hat er dabei wesentlich seiner Gattin Luise Adelgunde Victoire Kulmus (1713–1762) zu verdanken. Die Tochter eines Arztes in Danzig – die Mutter stammte aus einer Augsburger Patrizierfamilie – war sprachlich und musisch sehr begabt. Unterricht in Französisch, Englisch und Griechisch sowie eine Ausbildung im Klavier- und Lautenspiel prägten ihre Kindheit.

Schon früh komponierte sie kleine Stücke und schrieb Gedichte. 1729, mit 16 Jahren, lernte sie Johann Christoph Gottsched kennen, den sie 1735 nach dem Tod ihrer Eltern heiratete. Ihr Mann förderte ihre Ausbildung, und sie hörte heimlich seine Vorlesungen über Philosophie, Rhetorik, Poetik und Stilistik (Frauen waren damals in den Vorlesungssälen nicht zugelassen). Sie wurde seine Mitarbeiterin, baute eine Bibliothek auf, führte Korrespondenzen und veröffentlichte nach einiger Zeit auch eigene Publikationen.

Ihr Mann sah, dass ein Talent heranwuchs, das ihn bald übertreffen sollte. Die „Gottschedin“ oder „die geschickte Freundin“ –  so betitelte er sie in den Vorbemerkungen seiner Werke. Die Gottschedin führte zu den Werken ihres Mannes Voruntersuchungen durch oder schrieb eigene Beiträge und Rezensionen für die Zeitschriften ihres Mannes. Bei einem seiner Projekte über die Reform des Theaters übernahm sie die Verantwortung für den Bereich „Komödie“ und bereicherte mit Übersetzungen, Bearbeitungen und eigenen Stücken das Repertoire des Lustspiels auf den deutschen Bühnen. Hohe Anerkennungen der Fachwelt waren der Lohn.

Während ihr Mann die Regeln der Literatur und Poesie in seine vernunftgeprägten Überzeugungen sperrte und sich dabei in verschiedene und teilweise auch bitter geführte Auseinandersetzungen unter Gelehrten verstrickte, veröffentlichte die Gottschedin eigene Dramen und Übersetzungen wissenschaftlicher Werke. Ihre enzyklopädischen Publikationen erhielten mehr Beachtung, mehr Widmungen, Ehrungen und Auszeichnungen als die ihres Mannes. Seine Autorität begann in seiner starren Haltung zu bröckeln. Das bekannteste Stück der Gottschedin ist „Die Pietisterey im Fischbein-Rocke“ – eine antipietistische Satire im Sinne der Aufklärung nach einer französischen Vorlage von Guillaume-Hyacinthe Bougeant, einem französischen Jesuiten und Historiker.

1733 schrieb sie eine Ode an Russland, die sie am 28. Januar 1733 (julianischer Kalender) der Kaiserlichen Majestät Anna Iwanowna zum Geburtstag vorlegte. Die Gottschedin emanzipierte sich und stand auch jüngeren Autoren wie Friedrich Gottlieb Klopstock, der als wichtiger Vertreter der Empfindsamkeit galt, positiv gegenüber.

Mit der Zeit wurden die Differenzen der Eheleute Gottsched größer. Johann Christoph Gottsched hatte eitle Züge angenommen und vielleicht waren auch seelische Verletzungen in den geführten Auseinandersetzungen ein Grund. Seine Ablehnung nicht regelgerechter Literatur, z. B. der von Shakespeare, wurde rigoroser, was seine Gattin zunehmend störte. Sie unterstützte ihren Mann zwar sogar noch öffentlich in einem satirischen Brief an Lessing, der Gottsched immer wieder verspottete. Gleichwohl blieb sie bei ihrer Auffassung, dass man wahre Dichtung nicht nach seinem Regelsystem schaffen könne.

Eine späte berufliche Erfüllung fand sie an ihrer dreijährigen Arbeit an einem eigenen Werk über die Geschichte der lyrischen Dichtkunst der Deutschen. Das Werk fand 1760 wegen der knappen Mittel im Siebenjährigen Krieg keinen Verleger. 1760 erlitt die Gottschedin ein Nervenfieber. Ihre Freundin Dorothea deutete in posthumen Briefen an, dass ihre ununterbrochene Arbeit, der Schmerz über ihre Ehe und die Demütigungen durch Affären ihres Mannes eine tiefere Ursache waren. Am 26. Juni 1762 verstarb die Gottschedin nach mehreren Schlaganfällen und teilweiser Lähmung in Leipzig.

Kaiserin Maria Theresia nannte die Gottschedin 1747 bei einer Audienz in Wien die „gelehrteste Frau Deutschlands“. Dieser Superlativ mag spontan übertrieben sein, aber eine der gelehrtesten war sie gewiss. Indem wir Juditten über den Hammerweg verlassen, lassen wir diese Biographie, auch wenn sie in Danzig begann und nur mittelbar durch ihren Mann (der 1766 starb) mit Königsberg und Juditten verbunden ist, nachhallen und verneigen uns vor dieser außergewöhnlichen Frau.

Vorbei am Zentralfriedhof Kaliningrads (dem früheren II. Luisenfriedhof) und dem Hammerteich, lässt sich noch die neue orthodoxe Kathedrale bewundern. Wir kehren zurück zur evangelisch-lutherischen Auferstehungskirche.

Und da ist er auch wieder: der Herkules von Stanislaus Cauer an der Hammerteichschleuse. Auch in seiner seltenen Rückenansicht ist zu bemerken, wie sorgfältig der Künstler gearbeitet hat. Unsere Strecke geht weiter.

Jörn Pekrul