Schulen für deutsche Kinder
Die in der Sowjetunion geltende allgemeine Schulpflicht erstreckte sich ab 1946 auch auf die deutschen Kinder in Nordostpreußen. Die vor Ort für die Deutschen des Gebietes herausgegebene Zeitung „Neue Zeit“ berichtete in den Jahren 1947–1948 über Erfolge, aber auch Probleme im Schulalltag.
Der Leiter der Gebietsverwaltung für zivile Angelegenheiten des Kaliningrader Gebietes Wassilij Borissow erließ am 2. August 1946 den Befehl Nr. 302 bezüglich der Eröffnung von nichtrussischen Schulen für deutsche Kinder. Die Leiter der zivilen Verwaltungen in den Städten und Bezirken des Gebietes hatten bis zum 10. Oktober 1946 in größeren Städten und Siedlungen mit deutscher Bevölkerung zirka 40 Grundschulen und zehn siebenklassige Schulen für schulpflichtige deutsche Kinder zu eröffnen. Schuldirektoren sowie Lehrer für Russisch, Geschichte und Geografie sollten aus der russischen Bevölkerung stammen, Lehrer für die restlichen Fächer aus der örtlichen deutschen Bevölkerung, wobei vorab ein Lehrgang zu absolvieren war.
Die Umsetzung des Befehls erwies sich jedoch als schwierig. Es gab zu wenig Räume und Lehrer, die Renovierungsarbeiten verliefen nur langsam. Am 9. Oktober 1946 stellte Wassilij Borissow fest, dass nur in 30 von 50 Schulgebäuden Renovierungsarbeiten erfolgten, von 4.500 Schulbänken lediglich 1.200 bereitgestellt wurden und lediglich 140 Lehrer statt 240 im Vorbereitungslehrgang saßen. In der Stadt Kaliningrad gebe es bisher sogar weder Lehrer noch Lehrgangsteilnehmer. Borissow wies daher erneut an, unverzüglich alle notwendigen Maßnahmen zu treffen.
In der Zeitung „Neue Zeit“ lässt sich besonders in den 1947er Ausgaben die Schulpolitik im Gebiet verfolgen. Am 10. Juli 1947 wird auf das neue Schuljahr, das am 1. September beginnt, eingestimmt. In Kaliningrad gebe es mittlerweile zwei siebenklassige deutschsprachige Schulen und drei deutschsprachige Grundschulen. Im Gebiet existierten 43 deutschsprachige Schulen, darunter 8 siebenklassige und 35 Grundschulen, hiervon 15 bei Kinderheimen. Schüler, die nicht anderweitig versorgt würden, bekämen in der Schule Brotkarten. Auch eine ärztliche Versorgung sei sichergestellt.
Ende Juli 1947 werden an einem Kurs zur Lehrerausbildung interessierte deutsche Erwachsene für den 1. August 1947 in die deutsche Schule Nr. 1 (Luisenallee) eingeladen. Ein Lebenslauf sei mitzubringen. Bereits ein Jahr zuvor hatte Lucy Falk einen solchen Lehrgang erfolgreich absolviert und arbeitete fortan an der Johanna-Ambrosius-Schule, die später in „Nichtrussische Mittelschule für deutsche Kinder“ umbenannt wurde. Zwei Jahrzehnte später veröffentlichte sie ihre Erinnerungen bei Gräfe und Unzer in München.
Anfang August wird erneut zur Eile bei den Arbeiten zur Reparatur und Fertigstellung der Schulen gemahnt. Als Vorbild wird die Schule in der Siedlung Weissensee (Bezirk Gwardejsk) genannt, wo unter der sowjetischen Direktorin gemeinsam mit Eltern, Lehrern und dem deutschen Hausmeister sowie mit Hilfe der örtlichen Sowchose (staatlicher landwirtschaftlicher Großbetrieb in der Sowjetunion – die Red.) alles rechtzeitig zum Schuljahresbeginn am 1. September fertig geworden sei. Kritisiert werden hingegen die deutsche Schule in Cranz wegen fehlender Toiletten, die deutsche Schule für 46 Kinder in der Siedlung Kattenau (Bezirk Nesterow), wo Fenster und Türen noch kaputt seien, und die deutsche Schule in der Siedlung Goldbach (Bezirk Gwardejsk), wo es an Brennholz fehle.
Ende August werden die deutschen Eltern erneut über das sowjetische Gesetz über die allgemeine Schulpflicht informiert und ermahnt, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Ein Zuwiderhandeln könne mit Zwangsarbeit bis zu einem Monat bestraft werden. Lucy Falk hingegen schrieb in ihren Erinnerungen, dass es keinen Schulzwang gegeben habe, sondern die deutschen Lehrer angehalten waren, intensiv unter der deutschen Bevölkerung für den Schulbesuch der Kinder ab 7 Jahre zu werben. Dabei waren deren Mütter häufig nicht begeistert, da die Kinder zum Unterhalt der Familie beitragen mussten.
Einen Tag vor Schulbeginn hieß es am 31. August 1947: „In unserem Gebiet nehmen morgen zugleich mit den russischen rund 60 Schulen für deutsche Kinder ihre Arbeit auf, darunter 14 siebenklassige und eine Mittelschule. Sie werden an die 13.000 deutsche Kinder erfassen. … Siebzehn verschiedene Schulbücher der sowjetischen Schulen sind ins Deutsche übersetzt worden. Eine große Menge von Heften, Federhaltern, Bleistiften usw. ist beschafft worden. Hunderte von deutschen Kindern werden Brot- und Lebensmittelkarten durch die Schule erhalten. Während des Sommers haben mehr als hundert deutsche Lehrer zweiwöchige Sonderkurse durchgemacht, auf denen sie mit den Grundlagen der sowjetischen Pädagogik und Unterrichtsmethodik sowie mit den Aufgaben der Unterrichts- und Erziehungsarbeit in der sowjetischen Schule gründlich bekannt gemacht wurden.“
Drei Wochen nach Schulstart wird ein positives Fazit gezogen. Mehr als 50 Schulen seien pünktlich gestartet, zirka 6.000 Schüler seien erfasst. Eltern hätten überall bei der Renovierung und Instandsetzung der Schulgebäude mitgeholfen, der Schulbesuch der Kinder sei fast hundertprozentig. So würden zum Beispiel 299 deutsche Kinder sowie 30 Zöglinge der deutschen Kinderheime Nr. 4 und 5 an der Kaliningrader Schule Nr. 27 lernen. Es gebe dort auch eine Bibliothek und diverse Zirkel für den Nachmittag. Die Eltern würden auf Versammlungen über den Unterricht und die Erziehung ihrer Kinder informiert.
Für die 20 Kinderheime mit 4.000 deutschen Kindern, die ihre Eltern durch den Krieg verloren hätten, gebe der sowjetische Staat 19 Millionen Rubel aus. Im Kinderheim Nr. 5 gebe es sogar ein Kinderorchester.
Ende November werden die deutschen Lehrer, die merkliche Erfolge bei ihrer Arbeit erzielt hätten, gelobt. Viele Schüler erhielten ausgezeichnete und gute Zensuren. Trotzdem müsse sich der Lehrer beständig weiterentwickeln und Vorbild sein. Auch gebe es noch deutsche Lehrer, die unzulänglich arbeiteten und ihre wichtigen Verpflichtungen in rein formaler Weise behandelten.
Zum Jahresende 1947 informierte die „Neue Zeit“, dass mit Beginn der Winterferien am 31. Dezember in allen Schulen Neujahrsbäume aufgestellt werden. Während der Ferien würden Leseabende, Laienschauspielaufführungen sowie Exkursionen für die Schüler angeboten.
Ab Januar 1948 lichteten sich die Reihen der Schüler. Immer mehr Kinder wurden mit ihren Angehörigen beziehungsweise anderen Waisenkindern in die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands ausgesiedelt. Die deutschen Schulen schlossen nach und nach ihre Tore.
Liebe Leserinnen und Leser, wir würden uns sehr über Zuschriften zur Thematik freuen, ob Sie oder Ihre Angehörigen die Möglichkeit hatten, diese Schulen zu besuchen.
Alexandra Jelitte
Quellen:
„Neue Zeit“ – Zeitung für die deutschsprachige Bevölkerung des Kaliningrader Gebietes 1947–1948; archiviert in der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg
Eberhard Beckherrn/Alexej Dubatow: Die Königsberg-Papiere. Schicksal einer deutschen Stadt. Neue Dokumente aus russischen Archiven. Langen Müller, 1994
Lucy Falk: Ich blieb in Königsberg. Tagebuchblätter aus dunklen Nachkriegsjahren. Gräfe und Unzer, 1965
Ausflugstipp: Museum „Alte deutsche Schule Waldwinkel“ in Iljitschowo, Kreis Polessk, Lesnaja-Str. 24, Tel. +7 921 2629228 (ehemaliges Schulgebäude von Kelladden/Waldwinkel, Kreis Labiau), Museumsleiterin: Inessa Natalitsch
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