Die Kirche von Juditten (hier ihre Ostseite) ist heute russisch-orthodox und heißt Swjato-Nikolskaja zerkow. Ihr Schutzpatron ist der Heilige Nikolaus. Foto: Jörn Pekrul

Die Kirche von Juditten

Teil 5 der „Königsberger Wanderung“ (Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-2/2021)

Wunderbar muss sie im Inneren ausgesehen haben, obwohl sie nur einen kleinen Raum einnimmt. Die älteste Kirche im Samland. 1288 als Wehrkirche errichtet und auch als Wallfahrtskirche genutzt, wurde sie um 1330 mit einem Steingewölbe überdacht. Es folgte der freistehende Turm auf der Westseite, bis dann 1394 Malereien als Fresken im Chor und am Triumphbogen hinzukamen. Die Bilder stellten Fabelwesen dar sowie Ereignisse aus dem Leben von Jesus Christus und Maria, dazu Szenen des Jüngsten Gerichts. Und ritterliche Wappen in Ranken. Eines dieser Wappen gehörte Ulrich von Jungingen (ca. 1360–1410). Und damit treffen wir von diesem Kleinod im Wald auf die große europäische Geschichte.

Ulrich von Jungingen wurde 1407 der Hochmeister des Deutschen Ordens. Als dieser erklärte er 1409 dem Königreich Polen, das in Personalunion mit dem Großfürstentum Litauen verbunden war, den Krieg und führte das Ordensheer in der Folge zur Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg. Die Geschichte berichtet, dass er mit ca. 50 Jahren spontan an der Spitze seiner Banner vorpreschte in einem Moment, als die Schlacht in ihrer kritischsten Phase war. Je nach Perspektive wurde dies als heroischer Mut oder als fatale Unbeherrschtheit rezipiert. Einig sind sich alle Chronisten darin, dass der Hochmeister als tapferer Ritter im „ehrlichen Kampfe“ gefallen ist. Der Ordensstaat, in der Folge im Streit mit den immer selbstbewusster auftretenden Stadtrepubliken zerrieben, trieb einem langen Siechtum entgegen. Und gleichzeitig wurde mit „Tannenberg 1410“ ein polnischer Jahrtausendmythos geboren. Auch hier, wie im Kleinen bei der Geschichte um die „vier Brüder“ (siehe KE 02/2021), eine Begebenheit, um die herum sich mit der Zeit Legenden rankten.

Doch die Lebenserfahrung hat bisher immer wieder neu bestätigt: Wo sich Stolz und Freude über außergewöhnliche Leistungen weiterentwickeln in Illusionen von naturgegebener Überlegenheit anderen Menschen gegenüber (auch das hat dieser Mythos erlebt), werden diese Leistungen rückwirkend in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn diese Schlacht dem heutigen Menschen etwas sagt, dann vielleicht dies, dass überragende Leistungen, ähnlich wie Freundschaften im zwischenmenschlichen Bereich, immer wieder neu erworben werden müssen. In all dem blieb in der Juditter Kirche das vor langer Zeit gemalte Fresko des Wappens von Ulrich von Jungingen unangetastet.

1504 kam ein Marienbild hinzu. Eine herrliche Arbeit soll es gewesen sein. Es zeigte die Mutter Gottes auf dem Halbmond in überlebensgroßer Statur auf farbigem Holz, entstanden in der Zeit vor 1454. Im 20. Jahrhundert stellte Friedrich Lahrs (der 1924 die neue Grabstätte Kants am Königsberger Dom schuf) als Angehöriger der Königsberger Kunstakademie fest, dass dieses Marienbild dasselbe war, das sich in der Königsberger Schlosskapelle als „unsrer liben frawen Bild Am pfeiler“ befunden hatte. 1454 waren es aufgebrachte Königsberger (es war die Zeit der Erhebungen der Städte gegen den Orden), die dem Bild die Perlen aus der Krone raubten. Laut dem Rechnungsbuch des Ordens von 1504 ersetzte der Orden die Perlen und schenkte das Bild der Juditter Kirche, die bereits als Wallfahrtsort berühmt war. Es war vor allem dieses Bild, das die Kirche zu einem dauerhaften Pilgerziel werden ließ.  Auch noch nach 1525, als Herzog Albrecht von Preußen zur Reformation übertrat. Der Deutschordensstaat wurde in der Folge in ein erbliches lutherisches Herzogtum säkularisiert. Doch immer noch kamen Pilger selbst von Rom, um sich vom lutherischen Pfarrer eine Bescheinigung ihrer Buße ausstellen zu lassen. Als 1807 der preußische Hof in Königsberg weilte, besuchte Königin Luise diese Kirche gerne. 1820 wurde schließlich eine gewölbte Vorhalle zwischen dem Turm und dem Kirchenschiff gebaut; beide Teile waren nun zu einem Gebäude verbunden. Um die Kirche herum entwickelte sich ein Gräberfeld, auf dem viele Persönlichkeiten der jahrhundertealten Stadtgeschichte Königsbergs ihre letzte Ruhestätte fanden; so unter anderem auch Stanislaus Cauer, von dem wir noch hören werden.

Diese kleine Kirche, eine unscheinbar im Wald von Juditten gelegene Kostbarkeit und ein Zeuge der Jahrhunderte,  sie wurde 1945 ein Opfer des Furors, den der letzte Krieg hervorgebracht hatte. Die Toten wurden in Massengräbern südlich der Kirche beigesetzt. Zeitzeugen berichteten, dass kurz nach dem Fortgang der letzten überlebenden Juditter auch die Kirchenglocke ihren Dienst versagte. – Es gab keinen Klang mehr, der über das Land zog.

Doch so endgültig das Ende zu  sein schien, so blühte aus den Verwüstungen ein neues und nicht minder berührendes Leben hervor. Die Kirche, zur baufälligen Ruine geworden, erregte in den 1980er Jahren das Interesse der nun ansässigen Menschen und wurde originalgetreu wieder aufgebaut.

Die 1945 vernichteten Artefakte aus deutscher Zeit wurden durch eine orthodoxe Ausstattung ersetzt. In der Folge wurde die Kirche an die Russisch-Orthodoxe Kirche übertragen, die hier fortan regelmäßig Gottesdienste abhielt – bis heute. Bereits am 6. Oktober 1985 wurde die Kirche – als erste christliche Kirche zur Sowjetzeit in Kaliningrad – dem Heiligen Nikolaus von Myra, dem Schutzpatron der Seeleute, neu geweiht. Seither wird sie Nikolaikirche genannt (russisch: Swjato-Nikolskaja zerkow). 1988 fand zu Ehren des 1000. Jahrestages der Taufe der Rus der erste Gottesdienst statt. Die Kirche ist heute Hauptkirche des gleichnamigen Frauenklosters der Eparchien Kaliningrad und Baltijsk der Russisch-Orthodoxen Kirche und daneben eine touristische Attraktion.

Für viele der deutschen Besucher ergab sich nach 1991 im Zuge der Öffnung eine unerwartete und mit innerer Dankbarkeit aufgefasste Begebenheit. In diesen ersten Jahren wurde auf dem Juditter Friedhof, der inzwischen eine spärlich begrünte Öde geworden war, ein Holzkreuz aufgestellt. Es erinnerte an alle anderen 23 eingeebneten Königsberger Friedhöfe und an die vielen Tausenden von Königsbergern, die im Zusammenhang mit den Ereignissen um das Kriegsende ums Leben gekommen sind.

Es sind diese menschlichen Gesten; ihre Erweisung und ihre dankbare Annahme, die entstandenes Leid lindern können. Leid, das jenseits des eigenen Wirkungskreises verursacht wurde, und dessen Linderung in der ganz persönlichen Beziehung vom Ich zum Du auch Grenzen zu überschreiten vermag. Beschirmt durch den christlichen Glauben, der sich, bei allen Unterschieden der Ost- und der Westkirche, der Barmherzigkeit gegenüber dem menschlichen Leid mit Liebe widmet. Im gegenseitigen Respekt des Andersseins entwickelten sich nach 1990 Freundschaften, die um die Zerbrechlichkeit einer Beziehung wissen und ihren Wert dafür umso höher einschätzen können. Wenn uns die Kirche von Juditten etwas mitteilen kann, dann diese Welterfahrung in ihrer ganzen Tiefe und Wahrheit.

Es bleiben beim Verlassen des Kirchengeländes noch ein paar Notizen: Juditten wurde im Jahre 1287 erstmals als „duas villas sic nominatas Gaudityn“ (lateinisch für: die beiden Dörfer Gaudityn genannt) erwähnt. Der Name kommt aus dem Prußischen und beschreibt die Landschaft, wie sie sich damals zeigte: „gaudis“ (wehmütig) und „juodas“ (schwarz, finster). 1349 heißt der Ort bereits  „super villam Gauditin, Gauditen“ (Gauditin über dem Land)  und 1302 Judynkirchen. 1670 erscheint dann erstmalig „Juditten“ als Name in einem ostpreußischen Folianten. Am 16. Juni 1927 wurde Juditten in die Stadtgemeinde und den Stadtkreis Königsberg i. Pr. eingegliedert. Heute heißt der Ort Mendelejewo und besteht hauptsächlich aus Wohngebäuden, die einen Vorort von Kaliningrad bilden. Aufgrund seines immer noch reichen Bestandes an Wald und natürlich der Kirche ist er ein lohnendes Ausflugsziel geblieben. 

Jörn Pekrul