Vier Brüder und eine Geschichte vom Heldentum
Teil 4 der „Königsberger Wanderung“ (Fortsetzung aus KE 11-12/2020, 1-2021)
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner vierten Wanderung begleiten.
An der Hammerteichschleuse beendeten wir unseren letzten Spaziergang und erfuhren, wie die Königsberger Studenten vor etwa 120 Jahren ihre geselligen Abende im Forsthaus Moditten verbrachten. Die Gelegenheit sei genutzt, um etwas tiefer in die Geschichte des umliegenden Gebietes, der Kaporner Heide, einzutauchen. So wurde das Waldgebiet im südlichen Samland bezeichnet. Geographisch begrenzt wurde die Kaporner Heide in etwa vom Frischen Haff im Westen und von der Strecke nach Pillau im Süden. Nach Osten hin erreichte die Kaporner Heide die Stadt Königsberg und ging dort in das spätere Luisenwahl über. Es war zur Regierungszeit Friedrich des Großen, als das Waldgebiet – von einigen gerodeten Flächen und Dörfern abgesehen – noch geschlossen war. Erste Abholzungen vor den Toren der Stadt erfolgten in den Jahren 1758–1762, und an dieser Stelle blieb ein Wäldchen übrig, das den älteren Königsbergern noch heute als „Juditter Wäldchen“ oder „Theodor-Krohne-Wäldchen“ in Erinnerung ist.
Der Name der Kaporner Heide leitet sich ab von einer „kapurnei“, was in der prußischen Sprache einen Grabhügel bezeichnet. In der Kaporner Heide befand sich unter anderem ein Dorf, das 1278 erstmalig urkundlich erwähnt wurde und nach einem geistigen Prußenführer namens Myntete benannt war. Das Dorf hieß Myntegeiten und wurde in neuerer Zeit zu Metgethen.
Und schon sind wir mittendrin in einer Erzählung, die sich aus den Überlieferungen der Ahnen erhalten hat. Die Saga wäre heute sicherlich vergessen, hätte man nicht bis in die neuere Zeit eine Gedenkstätte mit dem seltsamen Namen „Vierbrüdersäule“ besehen können. Die Säule zeigte die Portraits von vier bärtigen Männern, die einen Helm trugen. Um 1900 wurde an der Säule das Wappenschild des Deutschen Ordens angebracht und eine Tafel, die zu dem rätselhaften Namen der „Vierbrüdersäule“ noch folgende Information in Reimform preisgab: Im Jahre 1295 hatten vier treue Diener des Deutschen Ordens einen blutigen Kampf in Sudau siegreich gewonnen. Ihre Namen waren Dyvel, Kobenzell, Stobemehl und Röder. Auf ihrer Rückkehr – sie machten gerade Rast für eine Mahlzeit – stürzten die Feinde aus dem Dickicht hervor und streckten die Viere nieder, weswegen zu ihrem Gedenken diese „Vierbrüdersäule“ errichtet wurde. Man stelle es sich vor: vier edle Ritter, erlegen bei einem ruchlosen Überfall!
Es ist eine Heldengeschichte, die wie geschaffen war, um durch die Jahrhunderte hindurch immer weiter erzählt zu werden. Am Ende entsteht eine Sage, die neben der reinen Begebenheit auch von einem Rankenwerk aus Deutungen und Dichtungen verschiedener Zeiten umgeben ist. Menschen brauchen Helden und Vorbilder – als Projektionsfläche und Inspiration. So wichtig diese Inspirationen sind, so sei an dieser Stelle in bester Königsberger Tradition an den Vernunftbezug Kants erinnert: Gönnen wir unseren Helden eine nüchterne Betrachtung, eine Besinnung. „Heldentum ist Ausnahmezustand und meist Produkt einer Zwangslage“, lässt Theodor Fontane seinen „Stechlin“ im Jahre 1895 sagen. Und das stimmt, finde ich. Verlangen wir von unseren Helden nicht mehr, als sie als Menschen nach vernünftiger Einschätzung und mit den auch sie umgebenden irdischen Zwängen zu leisten imstande gewesen sein mögen. Der Rest der dankbaren Passion sei auf die Überwindung der eigenen Schwächen im Alltag gerichtet. Und so verwundert es nicht, dass es auch andere Deutungen der „Vierbrüdersäule“ gibt. Der Königsberger Chronist Johannes Voigt beschrieb 1830 die vier Gesichter der Säule als Wegegötter, die – als Halbbrüder des Deutschen Ordens – Mitstreiter von Martin von Golin waren, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf Seiten des Deutschen Ordens gegen die Prußen und Litauer kämpfte. Diese vier Mitstreiter seien hier beigesetzt worden auf einer Grabstätte, deren prußischer Name „kapurnei“ der Gegend ihren Namen gab. Demgegenüber berichtet das 1868 erschienene „Sagenbuch des Preußischen Staates“ von Johann Grässe von einer vierzweigigen Eiche, die hier stand und von den Prußen verehrt wurde und an die diese Säule erinnere. In beiden Erzählungen wird in Erwägung gezogen, dass es mit den Heldentaten der „vier Brüder“ nicht weit her sei und es sich stattdessen um vier Räuber gehandelt haben könnte, die auf dem Heimweg dann selbst Opfer eines Raubüberfalls wurden. Der Chronist des Deutschen Ordens, Peter von Dusburg (auch: Duisburg), der 1326 seine „Chronicon Terrae Prussiae“ (Chronik des Preußenlandes) dem damaligen Hochmeister Werner von Orseln als Tischlesung für die Ordensbrüder übergab, erwähnt diese Säule bzw. Gedenkstätte übrigens nicht. Seine Chronik deckt den Zeitraum von 1190 bis ca. 1320 ab. Er erwähnt auch die Ereignisse um die Entstehung der Säule, aber nicht die Säule selbst.
Doch die prägende Kraft dieser Geschichte, mit all ihren Möglichkeiten zu Heldentum und Ausnahmezustand, sie blieb erhalten. Eine Art Resümee der Heldentaten aus vielen Jahrhunderten wurde auf einer Tafel gezogen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Eingang des Theodor-Krone-Wäldchens/Juditter Wäldchens befand. Also dort, wo in früherer Zeit die Kaporner Heide in das Stadtgebiet Königsbergs überging.
Dieses zu Beginn des 20. Jahrhunderts ca. 206 Hektar große Wäldchen in Juditten sollte 1898 ebenfalls abgeholzt werden, wurde aber durch den Stadtverordnetenvorsteher Theodor Krohne gerettet. Als Herr Krohne kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges aus dem Dienst ausschied, wurde dieses Waldstück ihm zu Ehren in „Theodor-Krohne-Wäldchen“ umbenannt. Der Geehrte stiftete eine bequeme Bank, die am Eingang des Wäldchens aufgestellt wurde. An einem schönen Tage um das Jahr 1908 herum, leuchtete einem Besucher des Wäldchens, unweit dieser Bank, eine große weiße Tafel entgegen. Die Tafel selbst verschwand nach dem Ersten Weltkrieg. Vielleicht war sie durch die Witterung unansehnlich geworden, vielleicht war sie auch entfernt worden. Erhalten hat sich aber ein Vierzeiler, der darauf stand und der in seiner harmlosen, fast kindlich anmutenden Einfachheit dennoch eine tiefe Weisheit vermittelt:
„Wenn dich auf dem Weg
der Pflicht einst ein Leid begegnet,
ring‘ mit ihm und lass es nicht,
bis es dich gesegnet!“
Dies sind meines Erachtens die wahren Heldengeschichten. Wer sich den Anfechtungen des Alltages stellt, mutig mit aller Kraft, in Erfüllung der Verantwortung, die auf einem liegt, zum Wohle der Menschen und entsprechend der Pflichten, die um uns herum sind – das sind Biographien, wie es sie vielfach gibt. Sie brauchen keine Denkmäler, sie sind sie selbst in den guten Folgen, die ihr Tun hervorruft. Und was uns die Geschichte so wertvoll macht, sei die Erkenntnis, die wir für das Heute aus ihr ziehen können.
Mit einem Blick auf die Kirche von Juditten wollen wir uns auf den nächsten Wanderungsabschnitt einstellen, um von dort wieder zu dem heutigen Ausgangspunkt an Stanislaus Cauers Meisterwerk aus Muschelkalk, dem Herkules an der Hammerteichschleuse, zurückzukehren.
Jörn Pekrul