Königsberger Wanderung (Fortsetzung aus KE 12/2020)
Teil 3. Stadt und Land und ein „Brot mit Gardinen“
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn nun bei seiner dritten Wanderung begleiten.
Die erste Wanderung im neuen Jahr beginne ich mit herzlichen Weihnachtsgrüßen an die russische Leserschaft zum Fest der russisch-orthodoxen Weihnacht am 7. Januar 2021. Mögen Sie besinnliche Tage haben und wollen wir gemeinsam hoffen, dass wir gesund bleiben und uns in diesem Jahr 2021 wiedersehen können.
Im weiteren Verlauf der Stägemannstraße (heute Uliza Tschernyschewskogo) erreichen wir die ehemalige Kraus- und Hippelschule (heute ein Gebäude der Universität), die um 1910 im Neo-Klassizismus errichtet wurde. Diese Kunstrichtung betonte die traditionellen Werte und wollte alte (vorindustrielle) Strukturen beibehalten. Ein ähnliches Motiv in der Architektur hatte der sogenannte Heimatschutzstil. Im Gegensatz dazu stand der aufkommende Jugendstil (Art nouveau), aus dem z. B. der russische Architekt Michail Eisenstein (1867–1920) die fantastische Elisabethstraße in Riga schuf (sein Sohn Sergej, geb. 1898, wurde später ein bekannter Filmregisseur in der Sowjetunion).
Was ein Gebäude alles erzählen kann! Man sieht an diesem Beispiel, wie sehr sich die Länder Europas immer wieder im Austausch ergänzt und einander befruchtet haben, ohne ihre eigene Identität aufzugeben. Markant sind hier die beiden Treppenhäuser, die in vier Stockwerke führen. An der Ostseite stehen zwei monumentale Portale, die jeweils von zwei Säulen eingefasst sind. Diese tragen wiederum eine Ansammlung von barocken Wappen, Vasen und anderen Zierelementen. Weithin sichtbar auch der noch erhaltene Uhrenturm und das große Dach, die Anfang der 1990er Jahre renoviert wurden.
Eine Eigenart fällt auf: Diese barocken Elemente passen nicht zu der eher nüchternen, klassizistischen Struktur des Gebäudes. Man findet eine ähnliche Beigabe noch heute an ähnlichen Gebäuden in Königsberg, an der ehem. Hindenburg-Oberrealschule am Wallring (Ul. Professora Baranowa) und der ehem. Städtischen Berufsschule am Korinthendamm (Ul. Professora Morosowa): Putten, Vasen, und ein Wappen an nüchternen, modernen Gebäuden. Diese einheitliche Handschrift könnte darauf hindeuten, dass die Entwürfe seinerzeit im Ministerium für öffentliche Arbeiten in Berlin entstanden sind, wo man noch an überholten Formen festhielt.
Eine Freundin von mir, Jahrgang 1929, verbrachte lange Jahre ihrer Schulzeit in dieser Schule. Sie berichtete mir, dass es im Winter manches Mal bitter kalt wurde: Die Züge mit den Kohlen, die aus dem Ruhrgebiet oder aus Schlesien kamen und durch den „Korridor“ fahren mussten, wurden an der Grenze zu Ostpreußen manchmal wochenlang festgehalten. Mit der Folge, dass die Königsberger froren. Oft wurden die Kinder nach Hause geschickt, weil ein Unterricht nicht mehr vertretbar war. Am Ende der Stägemannstraße haben in den letzten Jahren beeindruckende Bauarbeiten stattgefunden. Ein modernes Wohnhaus nimmt geschickt die Architektur seiner Umgebung auf, und eine große russisch-orthodoxe Kirche ist an der Kreuzung zur Hagenstraße entstanden. Ihr gegenüber steht die evangelisch-lutherische Auferstehungskirche von 1999, die sich als Zentrum der Seelsorge bewährt hat und für viele Touristengruppen aus Deutschland ein Höhepunkt auf der Stadtrundfahrt ist. Der nahegelegene Zwillingssee wie auch der Hammerteich deuten bereits an, das hier früher der Stadtrand erreicht war. An einer Schleuse stemmt sich der Herkules von Stanislaus Cauer immer noch tapfer gegen die Wassermassen – ein Kunstwerk von 1912, das die Zeit überdauert hat. Wenn es im Winter kalt war, saß man früher oft in der Stube und erzählte sich von den Tagen des Sommers. Erinnerungen und Vorfreude zugleich. Es wurden Geschichten erzählt, die sich durch Generationen erhalten haben. So erfuhren die Kinder, dass sie nicht alleine in die nahe gelegene Fürstenschlucht gehen sollten. Dem Areal haftete etwas Unheimliches an. Vielleicht lag es an dem abschüssigen Gelände; vielleicht war auch die Entfernung zum Elternhaus ein Grund. Im Sommer wurde an den Feldern entlang der Steffeckstraße sogar einmal die Kornmuhme gesichtet. Das Kind war sich, als es aufgeregt nach Hause kam, ganz sicher, diesen Schutzgeist der Landwirte durch die Ähren huschen gesehen zu haben. Es war eine Schreckgestalt, die Kinder davon abhalten sollte, die reifenden Felder zu betreten und damit zu schädigen.
Zwischen den Königsberger Vororten Juditten und Metgethen befand sich eine Restauration, die um 1900 bei Studenten sehr beliebt war: das Forsthaus Moditten. Man fuhr für 10 oder 20 Pfennige mit der Straßenbahn nach Juditten, und trat dort mit einer Gitarre einen Marsch über die Felder an. Wanderlieder wie „Möcht im ganzen Leben / nie was anderes werden / als ein kreuzfideler Studio…“ erfüllten die Sommerluft. Am Ziel gab es den berüchtigten Kopskiekelwein. Er wurde zu dieser Zeit, um 1900, vom alten Förstermeister Domsch aus eigenen schwarzen Johannisbeeren gekeltert. Eine bauchige Flasche kostete nur 50 Pfennige – das sprengte das Budget der Studenten nicht und versprach einen fröhlichen Abend. Dazu gab es Schinkenbrot mit „Gardinen“, was bedeutete, dass die Schinkenscheiben weit über den Brotrand hinaus herunterhingen. Mit frischer Landbutter ergänzt, war die Abendtafel gedeckt und man vergaß den Alltag bei Wein und Gesang. Für Damengesellschaften gab es für 75 Pfennige ein Kännchen guten Bohnenkaffees. Es wurde gespielt und gesungen und gelacht. Wie wenig brauchte es damals, um unvergess-liche Stunden zu erleben, von denen wir heute noch berichten können. Selbst Kant hielt sich zu seiner Zeit öfters in Moditten auf; Er verfasste dort seine Schrift mit „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“. Sein Aufenthaltsort, ein kleines Forsthaus in der Nähe der Restauration, wurde 1927 als Gedenkstätte ausgebaut und war ein Anziehungspunkt für die Königsberger. Beide Gebäude sind heute nicht mehr erhalten.
Und unsere Studenten aus dem Jahre 1900? Auch der schönste Abend geht zu Ende, und es galt, in Juditten die letzte Straßenbahn nach Königsberg zu erreichen. Inzwischen hatte der Kopskiekelwein seine verheerende Wirkung entfaltet: Manch junger Mann war derangiert und sah die Chausseebäume doppelt. Goethes „Faust“ lag über der Königsberger Nacht: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten…“. Es brauchte den scharfen Wind des Pregels, um wieder einigermaßen zur Besinnung zu kommen, die Kopfschmerzen am nächsten Tage blieben dennoch. Von Erlebnissen wie diesen fand auch der Begriff: „Er kopskiekelt wieder…“ Eingang in das Königsberger Plattdeutsch. Es ist ein unsicherer Gang nach dem Genuss des gleichnamigen, in Königsberg bis zum Ende in vielen privaten Haushalten hergestellten Weines aus schwarzen Johannisbeeren.
Und wie haben Sie in das neue Jahr hineingefeiert? Sollte Ihnen das „Kopskiekeln“ widerfahren sein, so befinden Sie sich in bester Königsberger Tradition. Bei aller Pflichterfüllung braucht der Mensch auch Gesellschaft, Lachen und Unbeschwertheit. Manchmal um den Preis eines Katers am nächsten Morgen, mit dem man dann seiner Arbeit weiter nachkommt. Nehmen wir diese Eindrücke mit auf unsere Wanderroute in das neue Jahr in dieser spannenden und interessanten Stadt. Ihnen allen ein frohes und gesundes neues Jahr wünscht Ihr
Jörn Pekrul