Königsberger Wanderung (Fortsetzung aus KE 11/2020)
Teil 2. Menschen und Geschichten im Königsberger Westen
Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, entdeckt auf seinen Wanderungen durch Kaliningrad Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn dabei begleiten. Er steht gerade vor dem Puppentheater (ehem. Luisenkirche) und berichtet:
Ich weiß nicht, wie es Ihnen zumute ist in all dem Verkehr. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt. Doch als ich das erste Mal hier war, wurde es mir zuviel. Die vielen Autos, der Rummel an der Luisenkirche, der Kinderspielplatz mit harmlosen Fahr- und Vergnügungsgeschäften – es waren zuviel der Eindrücke. Die Vergangenheit und die Gegenwart waren nicht mehr voneinander zu trennen – alles schien durcheinander geraten zu wollen.
Erst in der Adalbertstraße (Uliza Mariny Raskowoj) wurde es wieder ruhig. Die Sonne schien vom Himmel, doch die Bäume warfen einen kühlenden Schatten für eine kurze Rast am Bordstein. Und in diesem Moment erreichte mich ein unendlich beruhigender Eindruck: Aus einem der Häuser ertönte auf einmal eine Melodie. Der Pianist – oder die Pianistin – war nicht zu sehen. Die Musik kam aus einem der oberen Stockwerke. Das Fenster war geöffnet, und ein leichter Sommerwind spielte mit der Gardine, die aus dem Fenster wehte – so als wollte sie dem vorbeikommenden Hörer einen Gruß zuwinken. Es war eine Melodie von Brahms, die auf dem Klavier gespielt wurde. In einem Stadtbild, dessen Bauart der Häuser mir vertraut schien. Zugehörigkeit. Welche Macht von der Musik ausgehen kann!
Ein ähnlicher Ort der stillen Einkehr wurde im nördlichen Bereich der Hindenburgstraße/Ecke Hagenstraße (heute Uliza Leonowa/Karla Marksa) geschaffen. In einem unscheinbaren Plattenbau wartet eine Kostbarkeit: ein kleines Museum zum Andenken an den russischen Schriftsteller Juri Iwanow (1928–1994). Das Grauen der deutschen Belagerung seiner Geburtsstadt St. Petersburg hatte er überlebt; es waren Erlebnisse, die ihn prägen mussten. Nach dem Krieg kam er im April 1945 nach Königsberg, wo er seinen Vater suchte und fand. Der Vater war Oberst im Stab der 11. Garde-Armee und leitete eine Sonderfahndungsgruppe, die nach dem Archiv des Frauenburger Kapitels suchte. Für den Sohn war es eine erste Berührung mit der Kultur der verhassten Feinde. Juri Iwanow besuchte die Oberschule (die die Königsberger als die Burgschule kennen) und später die Sporthochschule in Leningrad. Danach fuhr er 14 Jahre lang zur See. In den 1950er Jahren begann er, Erzählungen zu schreiben. Vermutlich erkannte der reflektierende junge Mann in dieser Zeit die Stellung Königsbergs in der europäischen Kulturgeschichte. Gleichwohl lag es ihm fern, die Gegebenheiten in Frage zu stellen. 1964 folgte eine erste Auszeichnung im kulturellen Bereich, 1966 wurde er Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR und 1969 absolvierte er Kurse für russische Hochliteratur. Später stellte er die Geschichte und die Kultur des Kaliningrader Gebietes in über 30 Büchern der Leserschaft vor.
Man darf im Rückblick sagen, dass es auch dieses Werk war, das den Kontakt zwischen den Menschen aus Königsberg und aus Kaliningrad erleichterte, als das Gebiet nach 1990 geöffnet wurde. Recht bald wurde ein gemeinsames Verständnis spürbar, das man nach den geschichtlichen Tragödien der letzten Jahrzehnte nicht erwartet hätte. Das Credo Juri Iwanows war: „Wir müssen in Frieden miteinander leben!“ Viele Königsberger hörten diese Worte mit innerer Bewegung, Dank und Mut zur Freundschaft, und sie bewahren ihn in ehrender Erinnerung. Ein Grund mehr, dieses museale Kleinod zu besuchen. In der Sammlung werden übrigens auch fantastische Zeichnungen von ihm gezeigt – und wir entdecken darüber nicht nur den Schriftsteller, sondern auch den talentierten Künstler.
Entlang der Hufen stehen noch viele Gebäude aus alter Zeit: das sehr schön renovierte Tiepolt’sche Stift in der Busoltstraße (Uliza Jermaka), das zwischen 1890 und 1900 als Waisenhaus errichtet wurde. Ein kompakter Ziegelbau, der noch sein hohes, steiles Dach hat. Doch auch weniger prominente Gebäude ziehen die Blicke auf sich: In Ratshof befindet sich eine kleine Siedlung von Ein- und Zweifamilienhäusern. Sie entstand als Gartenstadt um 1907. Gefördert wurde die Siedlung von Dr. h. c. Felix Heumann, der als damaliger Inhaber der Waggonfabrik Steinfurt gesunde und kostengünstige Wohnungen für seine Arbeiter und Angestellten schaffen wollte. Nicht nur diese Siedlung erinnert an die Firma Steinfurt. Auf vielen Kanaldeckeln im heutigen Kaliningrad ist immer noch der Name dieser Firma zu lesen.
Und am Ende der Lawsker Allee (Prospekt Pobedy), auf der Strecke nach Juditten, befindet sich immer noch das Wohn- und Geschäftshaus mit seinem Treppengiebel, die so typisch sind für die ostpreußische Architektur.
In Amalienau wäre jede Villa eine Einzeluntersuchung wert. Auch heute strahlen sie noch die Eleganz aus, die ihnen der Architekt Friedrich Heitmann (1853–1921) und andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts zukommen ließen. Der Stadtteil Amalienau ging bis zur Hagenstraße im Norden. Lassen Sie uns noch etwas durch diese Straßen flanieren. Die Villa Leo von 1902, errichtet von Heitmann für den Stadtrat und Reedereibesitzer Ludwig Leo, ist im Landhausstil errichtet. Verspielte Dachformen und ein dekorativ vorgesetztes Fachwerk strahlen eine fast romantische Atmosphäre aus. Bester Jugendstil dagegen in der Doppelvilla Haarbrückerstr. 12 (Uliza Borodinskaja), der durch eine geschickte Renovierung heute sehr gut wieder zur Geltung kommt. Dies sind nur zwei Beispiele aus Amalienau, die zu einem ausgedehnten Spaziergang durch diesen Stadtteil ermuntern wollen.
Über die Kastanienallee erreichen wir den Hammerweg (Prospekt Mira), der uns einen interessanten Blick auf das Lehrerinnenheim freigibt. Auch hier noch eine geschlossene Alt-Königsberger Bebauung. Am Ziethenplatz, dessen Form unverändert das Karree ist, verläuft die Ziethenstraße nach Norden. Die heutige Kommunalnaja Uliza 30/32 zeigt ein unscheinbares Haus. Doch hier, in diesem Haus, hat sie gewohnt: Tante Ella, Ellachen, von der Königsbergerin Elisabeth Schulz-Semrau, die in ihrem berührenden Buch „Drei Kastanien aus Königsberg“ eine Spurensuche im Jahre 1988 beschreibt. Die Menschen, die hier einst waren und die 1988 hier lebten und vermutlich heute noch leben, hat sie in einer einfühlsamen Sprache verewigt.
Wir gehen weiter und überqueren die Hagenstraße. Hier wird es noch einmal interessant. An der Ecke Stägemannstr./Boyenstr. (Uliza Kommunalnaja/Tschernyschewskogo) empfängt immer noch die Skulptur einer jungen Frau, die seit der Errichtung des Hauses Nr. 34–36 durch ihre Schönheit bezaubert. Und gegenüber, Stägemannstr. 44, befindet sich ein steinernes Ehepaar, das eine Münze in eine Schatulle steckt. Das Haus, das als Genossenschaftsbau um 1925 errichtet wurde, sollte in diesem Laden eine Zweigstelle der Königsberger Sparkasse aufnehmen. Die Planung wurde nicht verwirklicht. Soweit erinnerlich, betrieb dort ein älteres Ehepaar eine Heißmangel. Man brachte gewaschene Wäsche dorthin und konnte sie glätten lassen. Heute ist eine Gastwirtschaft in diesen Räumen untergebracht. Lassen wir uns dort nieder und genießen die Getränke, die uns eine freundliche Bedienung bringt. Es ist Gelegenheit, die Gedanken schweifen zu lassen.
So viel Zeit ist vergangen. So vieles ist passiert. Doch der Mann und die Frau – sie bleiben dabei: Sie sparen hier Geld. Es drückt Hoffnung aus auf Zukunft, auf Vertrauen zu sich und zu seinen Nächsten. Eine zeitlose Hoffnung, an der wir nun, da wir auf das Ende eines bewegten Jahres zugehen, einmal fester halten wollen. So wünscht Ihnen einen besinnlichen Jahresausklang und ein gesundes, gesundes, gesundes neues Jahr
Ihr Jörn Pekrul