Jugendstilköpfe an einer Villa in der Ottokarstraße (heute Uliza Ogarjowa). Foto: J.P.

Königsberger Wanderung

Seit den 1990er Jahren haben viele Menschen unsere Stadt besucht. Einer davon, Jörn Pekrul aus Deutschland, war von Kaliningrad so beeindruckt, dass er seit seinem ersten Aufenthalt im Jahre 2010 regelmäßig wiederkommt. Auf seinen Wanderungen entdeckt er Vergangenheit und Gegenwart. Wir wollen ihn etwas begleiten. Gerade ist er auf dem Hansaplatz und berichtet:

1. Hansaplatz und Hansaring        

Herzlich willkommen zu einer „Königsberger Wanderung“, bei der wir heute Mittelhufen erschließen wollen. Und da öffnet sich uns gleich ein Pfauenrad mit fantastischen Darstellungen der Neorenaissance. Ein Gesicht schaut uns an, das umrahmt ist von allegorischen Formen, Blumenmustern, Rankenwerk und einer Kartusche. Es gehört zu einem Gebäude, das 1913 als Polizeipräsidium entstand und  bis heute das repräsentative Entree in die westlichen Stadtbezirke ist. Und die Stadt neckt uns: Ein Hydrant an der Stresemannstraße, heute Sowetskij Prospekt/Ecke Beethovenstraße, heute Uliza Kirowa, macht auf sich aufmerksam. Mit seiner knallroten Farbe wirkt er wie ein lustiger Zwerg inmitten des morgendlichen Berufsverkehrs.

Wir folgen der Straße und es verschlägt einem den Atem: eben noch Ornamente und Figuren, und nun ein vollendetes Bauhaus. Es handelt sich um die Ostpreußische Mädchengewerbeschule von 1930, gebaut von Hanns Hopp. Damals im Volksmund „Klopsakademie“ oder auch „Mädchenaquarium“ genannt (weil da lauter „Backfische“ drin waren), ist es jenseits aller volkspopulären Beschreibungen auch ein Gebäudekunstwerk allerersten Ranges.

Zurück auf dem Hansaring sehen wir die Wisente, die August Gaul 1913 geschaffen hat. Die beiden kräftigen Tiere stehen vor dem ehemaligen Amts- und Landesgericht, wo sie um das Recht kämpfen. Möge es in allen Streitigkeiten die Macht zum gerechten Weg führen. Haben Sie schon bemerkt, dass am Sockel der Wisente heute noch das Signet der Gießerei in Berlin-Friedenau zu sehen ist?

Direkt gegenüber befindet sich das Funkhaus des ehemaligen Reichssenders Königsberg von 1930, auch von Hanns Hopp. Die Erinnerungen an das Spatzenkonzert im Tiergarten oder die Sendungen von Ruth Geede sind heute noch allen, die sie gehört haben, lebendig. Ein ehrendes Andenken auch dem Bariton Hans Eggert, der trotz der Last seiner starken Sehbehinderung seiner Stadt auch in der Not treu blieb. Im Herbst 1944 mit  seiner Familie nach Torgau evakuiert, kehrte er an Weihnachten zu einem Liederabend nach Königsberg zurück. Er sollte die Stadt nicht mehr verlassen – entkräftet starb er am 13. April 1945 in der Obhut der „Grauen Schwestern“ in St. Elisabeth in der Ziegelstraße. Es sind Biographien, die heute unwirklich erscheinen ob ihrer Selbstlosigkeit und ihrer Bescheidenheit.

Der Bereich vom Hansaplatz bis zum Beginn der Hufen ist in sich geschlossen geblieben. Die Gebäude sind in nur 20 Jahren entstanden. Und dennoch weisen sie viele Extreme auf. Da haben wir die barocken Formen des Amts- und Landesgerichts von 1917. Daneben der Neo-Klassizismus der Oberpostdirektion von 1916 und damals das Schauspielhaus von 1927 in einem nüchternen Stil (es wurde zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut – heute wirkt es wie eine Miniatur-Ausgabe des Bolschoi-Theaters).

Und endlich, die hohe Kunst der Neuen Sachlichkeit am Preußischen Staatsarchiv von 1930 und, in der Alten Pillauer Landstraße, bester Expressionismus beim Landesfinanzamt von 1928.

Merken Sie schon etwas? In Königsberg/Kaliningrad befindet sich eine Schatztruhe der deutschen und europäischen Architekturgeschichte im frühen 20. Jahrhundert. Neue Ausdrucksformen wurden damals gesucht – hier finden sich die Experimente in allen ihren Facetten. Ein Auftakt zu einer Entdeckungsreise, die wir als Wandergruppe durch diese eindrucksvolle Stadt antreten wollen.

2. Auf den Hufen

Wir nehmen eine kurze Rast am bronzenen Denkmal Friedrich Schillers von Stanislaus Cauer. Der „Feuerkopf“ hat alle Stürme überdauert – seit seiner Enthüllung am 10.11.1910 steht er hier und beobachtet das Treiben. Könnte er erzählen! Die Statue ist kraftvoll – ein junger Königsberger Hafenarbeiter hatte Cauer damals Modell gestanden. Und so lebt dieser unbekannte junge Mann in dieser Statue weiter.

Unsere Wanderung führt uns weiter in den Westen, und der anschwellende Straßenlärm macht bereits deutlich, wo wir sind. Auf den Hufen hat sich der Verkehr ins Unermessliche potenziert. Schnell hinein in  die Hindenburgstraße (heute Uliza Leonowa), wo es etwas ruhiger ist. Und dort treffen wir, am Hufen-Oberlyzeum, auch Herrn Stanislaus Cauer wieder. Er weist uns auf die beiden Mädchenköpfe hin, die an der Nordseite des Gymnasiums in den Hof hineinblicken.

Doch hiervon möchte ich meinen Freund Ulrich Galandi berichten lassen. „Ulrich, Du bist 1931 hier in Königsberg geboren. Darf ich Dich bitten: Schon 90 Jahre im Schuldienst der Stadt tätig und kein Ende der Arbeiten in Sicht! Ein extrem langes Arbeitsverhältnis; es ist wohl einmalig, es entstehen berechtigte Zweifel und Fragen. Was verbindet das Oberlyzeum in der Hindenburgstraße mit dem Bildhauer Stanislaus Cauer und zwei Schülerinnen des Hauses miteinander?“

„Vieles: Die Schule erhielt Mitte der 1920er Jahre einen Erweiterungsbau. Das Portal sollte eine sinnvolle Verzierung erhalten. Stanislaus Cauer erhielt den Auftrag. Es wurden zehn Schülerinnen aufgestellt und zwei der Damen wurden auserkoren. So schuf der Künstler zwei Mädchenköpfe. Eine der beiden Schülerinnen ist meine Mutter, geb. Elisabeth Heitmann (die Tochter des Amalienau-Architekten Friedrich Heitmann, – JP). So konnte ich meine Mutter in Gedanken bei meiner ersten Besuchsreise 1991 in der Hindenburgstraße aufsuchen. Eine weitere Begebenheit hat sich auf dem Schulhof ereignet; meine Großeltern Galandi konnten 1945 die Stadt nicht mehr verlassen; die Großmutter starb schon am 02.05. und wurde auf diesem Hof von ihrem Mann bestattet; der Ehemann starb am 02.11. an Typhus im Krankenhaus in der Yorckstraße…“

Der Nachgeborene verneigt sich vor den Menschen, die in diesen Jahren Leid erfuhren an allen Seiten des Krieges. Es sind Erlebnisse wie diese, die helfen, das Heute zu verstehen. Was anderes kann das Ergebnis sein als eine Hochachtung vor den heute alten Menschen aus Königsberg und in Kaliningrad, die uns hüben und drüben so viel gegeben haben an Sicherheit und Vorbild in unseren prägenden Jahren.

Diese Leuchtkraft findet sich auch in den Überlieferungen uns nicht bekannter Bürgerinnen und Bürger der Stadt; in Berichten, die als Buch erhältlich sind. Es sind Erinnerungen, die der junge Mensch braucht. Zum Vergleich, zur Anregung, zur Mahnung, zur Entwicklung. Auch zur Entwicklung des Mutes, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Wo könnte der Anlass dazu stärker sein als in Königsberg/Kaliningrad.

Jörn Pekrul