Deutsche Touristen besuchen das Marzipanmuseum in Kaliningrad. Foto: Archiv kinfa

Corona ist stärker als die Politik…

„Berlin. Es ist ein weiteres Stück Normalität in der Corona-Krise: Reisende aus EU-Staaten und der Schweiz können bald wieder ungehindert nach Deutschland kommen.“ So stand es am 11. Juni 2020 in unserer Tageszeitung. Am 16. Juni, so lautete die frohe Botschaft, werde endgültig Schluss sein mit den Grenzkontrollen.

Die Verfasserinnen des Artikels stellten Erfreuliches in Aussicht: Niederländer können wieder in Köln einkaufen, die Französin kann wieder ihre Freundin in Münster besuchen, Gäste aus der Schweiz, aus Norwegen und Großbritannien werden erwartet.

Es war eine gespenstische Erfahrung während der Corona-Pandemie, dass es plötzlich wieder Grenzen in Europa gab. Man konnte mit einem Mal nicht mehr ungehindert reisen, benötigte Ausweise und musste plausible Gründe nennen können, wenn man in ein anderes Land wollte. Das alles gehörte doch für die EU-Bürger einer überwunden geglaubten Vergangenheit an, schien weit entfernte Geschichte zu sein. Und nun, Mitte Juni 2020, wurde das Reisen endlich wieder möglich.

Die reisefreudigen Deutschen machten sich gleich auf den Weg. Die Straßen füllten sich mit Autos mit unterschiedlichsten Kennzeichen (während der strengsten Reisesperre sollte man auch innerhalb Deutschlands keine Fahrten machen!), bei strahlendem Sommerwetter dröhnten Motorräder und Sportwagen mit offenem Verdeck an einem vorüber. Auf meinem Anrufbeantworter teilte mir schon am 10. Juni ein passionierter Camper mit, er werde jetzt ein paar Tage mit dem Wohnmobil verreisen, allerdings innerhalb Deutschlands. Aber ein früherer Kollege meldete am 17. Juni elektronisch, dass er „morgen“ nach Frankreich fahren werde. Sie haben dort eine Ferienwohnung am Atlantik.

Einen Tag später, am 18. Juni, rief ich die Busfirma an, mit der ich immer nach Königsberg/Kaliningrad fahre. Bis 31. August gebe es keine Fahrten in die Kaliningrader Oblast, teilte man mir mit. Man könne auch noch gar nicht sagen, wann wieder Fahrten stattfinden werden. Aber ich dürfe in ein oder zwei Wochen wieder anrufen und nachfragen.

„Neid frisst am Gebein“, heißt ein weises Wort, das eine Freundin mal in einem Vortrag zitierte. Neidisch will ich auch gar nicht sein. Europa soll seine Ferienreisen genießen. Es ist nur bitter, wenn man nicht in ein Land reisen kann, das mitten in Europa liegt, aber nicht zu Europa gehört. Die Weltgeschichte macht mitunter absurde Sprünge.

Den Deutschen, deren Eltern und Großeltern aus dem nördlichen Ostpreußen stammen und die die alte Heimat lieben gelernt haben, gibt eine solche „Einreise-Sperre“ einen Stich ins Herz. „Die Haut vergisst nichts“, wirbt eine Firma für Sonnenschutzcreme, die den Leuten ein Mittel gegen Sonnenbrand anbietet. Die Seele vergisst aber auch nichts. „Wenn wir vielleicht dieses Jahr überhaupt nicht mehr nach Ostpreußen fahren können – ich kann es mir gar nicht vorstellen“, sagt ein jüngerer Landsmann über seine Ängste. Dann ist dieser seltsame Traum wieder da. 1991 durften wir endlich ins Königsberger Gebiet fahren. Für August war eine Reise gebucht – und fiel aus, weil der Gorbatschow-Putsch dazwischen kam. „Vor Reisen nach Russland wird gewarnt“, stand damals in der Zeitung. Mich packte die Angst, die Heimat würde wieder zum Sperrgebiet.

Seitdem träume ich, ich hätte über einen längeren Zeitraum ein wichtiges Medikament nicht eingenommen. Der „Tabletten-Traum“ kommt immer bei Stress – und ist ganz furchtbar.

Die Sorgen und Ängste heute sind jedoch völlig andere als damals. Die 46 Jahre Sperrgebiet hatten das nördliche Ostpreußen, über das man im Westen nichts hörte und erfuhr, zu einer Obsession werden lassen. Man wollte das Land nur einmal sehen, wenigstens einmal sehen, mehr nicht! Heute, nach fast dreißig Jahren, gehören Besuche dort zum normalen Leben und Jahres-Rhythmus. Jetzt ist es das Heimweh nach den Orten und vor allem nach den russischen Freunden. Sind alle gesund? Was machen die Kinder? Wie geht es vorwärts mit den verschiedenen Projekten? Die Corona-Sorgen kommen hinzu. Manche Existenz steht auf dem Spiel. Der Sommer ist da – wie gerne würde man mit den Lieben daheim im Garten grillen oder Fischsuppe kochen oder an den Lieblingsstrand nach Jantarny/Palmnicken fahren… So hilfreich Telefon und E-Mail sind – ersetzen können sie das Miteinander nicht.

Die Pandemie ist ein weltweites Schicksal. Aber dass der Kollege nach Frankreich fahren kann und wir nicht ins nördliche Ostpreußen, das ist die Politik. So schrieb ich am 23. Juni 2020 nicht ohne Bitterkeit.

Heute, am 24. Juni, hat Corona gezeigt, dass es stärker ist als die Politik. Neue Infektionen hier in Westdeutschland machen Reisepläne zunichte. Im Fernsehen kommen laufend Menschen zu Wort, deren Urlaubsreisen „geplatzt“ sind. Es geht also nicht nur uns so. Geduld! Wer weiß, wie die Welt morgen aussieht.

Dennoch – mein Heimweh möchte ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen…     

Bärbel Beutner